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Mein kleines serbisches Tagebuch: Teil 3 – Vom Fluss der Zeit

Und ich habe dich wieder, geliebter Balkon! Nachmittags bin ich wieder eingezogen. Der Park ist wunderbar, aber hier ist es besser. Auch das Bett in der Schiffskoje, in der ich für zwei Nächte untergebracht war, war nicht bequem. Als ich heute Morgen aufwachte, tat mir der ganze Rücken weh, denn die Matratze war viel zu weich. Aus den Federn bei Tagesanbruch, irgendwann zwischen vier und fünf, beschloss ich, die Gunst der Stunde zu nutzen und machte mich auf einen Spaziergang. Das war gut so!
Die Frische des unberührten Morgens, sie hielt nicht lange, aber die Zeit reichte aus für einen Besuch von Petrovaradin am anderen Donauufer. Ich inspizierte den Kai, den ich mir bislang immer nur von der gegenüberliegenden Seite aus angesehen hatte. Er war menschenleer, mit Ausnahme der Angler natürlich.

Ich wanderte über eine gepflasterte Promenade und gelangte auf die Höhe der dritten Donaubrücke, die ein kühnes Ingenieurswerk ist in zwei Bögen. Nur ein kleines Stück weiter mündet der Donau-Theiß-Donau-Kanal in den großen Strom. Gegenüber am rechten Ufer wäre flussabwärts noch ein stiller Donau-Arm gelegen.
Was soll ich sagen zur Varadin-Seite? Es wird trist, je weiter man aus dem Zentrum sich hinausbewegt, und die Tristesse liegt daran, dass es wunderschön sein könnte in den Auen, würden sich die Menschen nur etwas mehr um ihre Landschaft kümmern. Dazu muss man wissen: Serbien ist ein Land mit zwei Gesichtern, wo Glanz und Elend, Licht und Schatten, allzeit nah aneinanderliegen.

Am Ende der Kaimauer lag eine kleine Bucht mit einem sandigen Streifen von Badestrand. Dahinter türmten sich eine Menge abenteuerlicher Verschläge und provisorisch gezimmerter Buden. Von irgendwoher spielte laute Musik, das waren wohl Nachtschwärmer, für die der neue Tag noch gar nicht begonnen hatte. Jenseits der Buden erstreckte sich ein Stück Wald, wo sich große uralte Baumstämme aus dem Sandboden recken. Idyllisch, aber mutmaßlich mit derselben Gleichgültigkeit vermüllt und malträtiert wie der vor mir liegende Strandabschnitt.

Ich zog es vor, die mutmaßliche Spätzecher-Lokalität nicht zu passieren. Der weitere Weg um das Unterstadt-Bollwerk erwies sich ebenfalls als Sackgasse. Zuerst querte ich noch einen modernen, sehr schick angelegten Kreisverkehr am Fuße der Brücke. Die nagelneue Schnellstraße war flankiert von Radwegen und einer gepflasterten Fußgängerbahn, eine Tafel am Straßenrand verkündete die Unterstützung des Verkehrsprojekts durch Fördergelder der EU. Das Ganze endete schließlich nach einigen hunderten Metern auf verblüffende Weise im Nichts, ein abrupter Abbruch der Wege wie mit dem Lineal gezogen. Nur mehr die alte holprige Straße blieb übrig und schlängelte sich in die Pampa.

Zurück in der Unterstadt von Petrovaradin hat sich eine Weile ein Hündchen an meine Fersen geheftet, das vermutlich nach ein wenig Unterhaltung begehrte. Schließlich hat es jedoch beschlossen, wieder eigene Wege zu gehen, und von sich aus auf die weitere Begleitung verzichtet.

***

Es tropft von den Hauswänden, das kommt von den Klimaanlagen. Das Kondenswasser bildet Pfützen auf dem Straßenpflaster. Anfangs konnte ich mir die Nässe nicht erklären und dachte an Blumenfreunde, die es mit der Sorgfalt für ihre grünen Schützlinge etwas zu gut gemeint, beim Gießen ein wenig über die Stränge geschlagen hätten. Doch da waren gar keine Blumenkisten an den Hausfassaden! Nach einer Weile habe ich begriffen, es liegt an den Kästen mit den eingebauten Ventilatoren, die den ganzen Tag monoton vor sich hin dröhnen. Aus ihren Schlünden trieft das Wasser heraus. Ich kann mir nicht helfen, mir graust ein wenig davor, mache immer einen Bogen herum und bilde mir ein, dass es müffelt.

Vielleicht liegt es daran, dass auch mein Hostel-Balkon von Zeit zu Zeit von Wassergüssen betroffen ist. Vor einigen Tagen tropfte es aus dem darüber gelegenen Stockwerk herab auf das eiserne Balkon-Geländer, ein Geräusch, das mich schon irrtümlich auf Regen hoffen ließ, als ich es erstmalig aus der dunklen Höhle meines Zimmers heraus vernahm. War aber nur der Tropf. Dann aber wurde das Problem auf eine unerwartete Weise gelöst. Ich beobachtete, wie in der Etage über mir eine Handauftauchte mit einer Plastikflasche, die augenscheinlich gut gefüllt war. Sie schüttete mit einem lauten Platsch das Wasser über die Brüstung, zum Glück jedoch so gekonnt, dass weder die darunterliegende Terrasse von diesem unerwarteten Guss getroffen wurde noch die Wäschestücke auf der Leine. Zwei Mal wurde ich mittlerweile Zeugin solcher Schwälle, die mutmaßlich vom Leeren eines Auffanggefäßes für Kondenswasser herrühren. Immerhin, die Prozedur scheint zu nutzen. Das stete Tropfen hat seitdem aufgehört.

***

Von der Gegenwart lässt sich sagen, sie ist gewärtig.

Die Hingabe der Menschen, sich für ihre Fotos auf den Handys zu inszenieren. Hier in Novi Sad sind sie wahre Meister darin, jeder Schnappschuss besitzt eine vollendete Dramaturgie. Ob ein Grüppchen, das vor den Kulissen der Festungsmauern die perfekte Familie darstellt. Oder die jungen Frauen, die wie professionelle Mannequins vor Brunnen und Denkmälern posieren, als ginge es um die neueste Ausgabe der Vogue. Mit sichtlichem Vergnügen am Knipsen entstehen hier Serien von privaten Fotoshootings. Das Selfie, das Bild. Geschnappt und gepackt ist der Moment, und so wird er stehen für den Rest deiner Zeit! Oder wenigstens so lange du dir die Fotos ansiehst. Du selbst wirst dich freilich von deinem Bild entfremden, Tag für Tag ein kleines Stück. Irgendwann wirst du dich verwundert fragen, ob du das gewesen bist auf diesem Foto, und wer du eigentlich damals warst.

Vielleicht ist es das, was mich gelegentlich schaudern lässt: der Fluss der Zeit. Eben noch da wie selbstverständlich, lässt sich nichts auf Dauer festhalten, wird schon im nächsten Augenblick von dir fortgerissen, driftet ab, und kein Weg führt mehr zurück außer den Bildern aus der Erinnerung, die vage sind und trügerisch. Eine Bootsfahrt, die kein stromauf mehr kennt. Genau so geht es mit unserer Epoche, die bald eine vergangene sein wird. Die Menschen spüren es, sie sagen, die Zeit vergeht so schnell. Sie sagen, das sei der Lauf der Dinge, und so ist es auch. Sie sagen, die Welt ändere sich so rasant.

Wir leben am Sprung einer Zeitenwende und wissen nicht, wohin die Reise geht. – Doch im Moment ist es einfach schön. Das Wasser fließt die Donau hinab, ich kann mich nicht losreißen vom Schauspiel der Fluten. Über mir die Postkartenidylle der Festung im Sonnenuntergang, unter mir die Angler am Kai. Draußen am Strom ziehen die Boote vorbei. Auf den warmen Hafenmauern machen es sich die Leute bequem, sie rauchen und schwatzen. Rundum die heitere Gelassenheit eines lauen Sommerabends.

Ulla Puntschart
https://ulla-puntschart.jimdo.com/

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 21099

Mein kleines serbisches Tagebuch: Teil 2 – Parkgeschichten und Promenaden-Mischungen

Dunavski Park liegt zwischen einem breiten, mehrspurigen Boulevard, der gesäumt ist von Kolossalbauten aus der kommunistischen Ära, und einem gemütlichen Altstadtviertel im Norden. Der obere Ausgang mündet in eine kleine Straße mit Cafés und Konditoreien, die Fassaden aus der Zeit der Donaumonarchie sind frisch geputzt und sehen ein wenig aus, als wären sie selbst aus Schlagobers. Zur rechten Hand liegt ein öffentliches Gebäude, vor dem man diverses altes Kriegsgerät zur Schau gestellt hat, und im Anschluss daran befinden sich zwei Museen. Auf einer nahegelegenen Baustelle arbeitet man mit Hochdruck – im Jahr der Kulturhauptstadt, das bereits von 2021 auf 2022 verschoben wurde, will Novi Sad auf Hochglanz poliert sein! Wenigstens dort, wo es die Touristen sehen.

Die Parkanlagen sind wie ausgeschnitten aus einem Bilderbuch des vorvergangenen Jahrhunderts mit großen, gepflegten Blumenrabatten, massiven Holzbänken und schmiedeeisernen Laternenmasten. Vor mir liegt ein Band mit Erzählungen von Thomas Mann, den ich mir als Lektüre von zuhause mitgebracht habe. Ich dachte, der Lesestoff passt zu diesem Ort, vielleicht sogar in die seltsame Zeit, die wir gerade erleben: der leise nachhallende Charme einer vergangenen Welt, die Seuche, Verfall – vielleicht auch der Verweis auf etwas Kommendes, dessen Nahen man spürt, dessen Namen man jedoch noch nicht kennt? Ich vertiefe mich in eine Erzählung und das Wetter an diesem Vormittag beliebt genau so zu sein wie im Text der Geschichte: blauer Himmel mit Wollwattebällchen von Wolken!

Nach einer Weile gleitet mein Blick vom Buch wieder ab und wendet sich der Stadtkulisse vor meinen Augen zu. Es ist ein Ort der Flaneure. Manche kommen mit schweren Taschen beladen vom Markt und gönnen sich einen ruhigen Augenblick in einem Winkel des Parks, ehe sie ihren Weg fortsetzen. Andere machen Halt an einem der kleinen Kioske, die an der Parkecke Eis und gekühlte Getränke verkaufen. Ich sehe Mütter und Omas mit kleinen Kindern. Alte Herren mit sauber gebügelten Hemden setzen sich bedächtig auf eine Bank im Schatten, lesen ihre Zeitung oder verfolgen so wie ich das Schauspiel der Passanten. Die jungen Leute sind natürlich immer am Smartphone und eingewickelt in Kabel und Ohrstecker. Ich meinerseits genieße es, mir die Welt analog anzusehen. Ich lasse mich gerne ein wenig aus der Zeit herausfallen, in jüngster Zeit immer öfter. Bin es allmählich überdrüssig, immerzu den allerneuesten technischen Innovationen hinterherzuhecheln, ich klinke mich aus. Zum Glück komme ich allmählich in ein Alter, wo ich es mir leisten kann, ein wenig vorgestrig zu erscheinen.

***

In der Donau
Holst dir kein Corona

Am linken Donauufer, auf der Krone eines gemächlich den Flusslauf begleitenden Damms, verläuft eine breite Promenade mitten im Grün. Sie ist weitläufig und großzügig ausgestattet mit Platz für drei Bahnen, wovon die mittlere gepflastert und mit Bänken möbliert ist, sie gehört den Spaziergängern. Eine schmälere Spur ist für die Läufer reserviert und der dritte Streifen dient als Fahrradweg. Landeinwärts liegen Parks, ein Kinderspielplatz und ein öffentlicher Sportplatz, der mit Trainingsgerät und Fitnessmaschinen bestückt ist. Die Promenade reicht von der Varadin-Brücke bis zum berühmten Strand, der genauso heißt hierzulande und ebenso ausgesprochen wird: der Strand. Die öffentliche städtische Badeanstalt läge mit etwa 45 Gehminuten durchaus in Reichweite. Aber nicht einmal das schaffe ich momentan in der Hitze. Ob ich es vielleicht einmal frühmorgens versuche? Tagsüber dürfte der Badeplatz ohnehin ziemlich überfüllt sein.

Trotzdem bin ich gestern kurz in die Donau gestiegen! Einfach nur, um das Gefühl des Wassers um die Beine zu spüren und den weichen Schlamm unter den Zehen. Eine Illusion von weiter See. Dabei, mehr als ein wenig Plantschen am grünlich-braunen Wasserrand ist ohnehin nicht, denn die Strömung ist sehr stark. Auch die Einheimischen staken nur wenige Schritte in die Fluten hinein. Eine Dame spricht mich an und ich muss ihr gestehen, dass ich der Landessprache nicht mächtig bin. Von wo? Austria. Oh! Sie lacht mir zu und antwortet in der deutschen Redewendung, die hier offenbar durchwegs geläufig ist: Schöne blaue Donau! Es tut gut, die baumbewachsenen Ufer zu sehen. Jenseits der Hafenzone darf es an den Böschungen wuchern, als wäre das Grün sich selbst überlassen, hier wurde nicht zugepflastert und betoniert, wie es bei uns zu Hause so gerne der Fall ist. Der einzige Hinweis auf die regulierende Hand des Menschen sind die pilzartigen Bauwerke aus Beton, die in regenmäßigen Abstanden am Ufer stehen. Über eine Art Zugbrücke vom Damm aus erschlossen, jedoch abgesperrt und verbarrikadiert, schmiegen sich die Türmchen in den Schatten der Bäume. Sie sind von oben bis unten knallbunt bemalt und mit Graffitis besprüht.

***

Ein brütend heißer Tag geht in den Abend über. Heute weht ein Wind, das ist besser als in den vergangenen zwei Tagen. Man kann tagsüber kaum etwas unternehmen und nur wenige Minuten nach der Dusche ist man bereits wieder zum Opfer der prallen Hitze geworden. Erst in den Stunden vor Sonnenuntergang wird es wieder erträglicher. Mich hat es wieder in den Dunavski Park verschlagen, zu den lauschigen Bänken im Schatten. Aus meinem schönen Zimmer mit Balkon bin ich vorübergehend ausquartiert worden, zum Glück nur bis morgen. Der Grund ist eine größere Schülergruppe, die übers Wochenende Einzug gehalten hat. Fröhliche Teenager, die dem bevorstehenden Schulschluss entgegenfeiern, haben alles im Hostel in Beschlag genommen.

Mein Ausweichquartier sieht aus wie eine Schiffskoje. Ein enger Schlauch, links und rechts vom Mittelgang je ein schmales, dafür turmhohes Bett, eine Kochnische, ein Schrank und das Bad. Dazu gibt es einen Klapptisch am Fenster, der eingezwängt ist zwischen Kleiderschrank- und Badezimmertür. Abgesehen von der Enge gibt es zwar nichts zu beanstanden. Das Appartement ist nagelneu, blitzsauber und blütenweiß. Es verfügt über Aircondition. Doch das ist nur ein schwacher Ersatz für meinen Balkon, ich vermisse ihn. Im Fernsehen habe ich als einzigen deutschsprachigen Sender RTL erwischt, inklusive Nachrichten im dortigen Teletext. Später spürte ich CNN und BBC News im Wust der Senderlandschaften auf. Ich habe nun erfahren, dass die Hitzewelle nicht nur über den Balkan, sondern über ganz Europa schwappt. An die Gemüsepflänzchen im Garten zuhause versuche ich gar nicht zu denken.

Sei es wie es sei, im Park lässt sich’s aushalten. Ich verschweige es nicht, der Zauber der Stadt verfehlt auch dieses Mal nicht seine Wirkung auf mich! Fühle mich auf eine angenehme Weise in der Fremde heimelig. Der Abend ist die Zeit der Spaziergänger, die ihre Hunde ausführen. Die Leute mögen vor allem die kleinen bis mittelgroßen Tiere, und man sieht ihnen an, dass ein jeder Vierbeiner jemandes Liebling ist. Die Hunde von Novi Sad sind durchwegs hübsche und liebenswürdige Wesen mit großen treuherzigen Augen und seidig gepflegtem Fell. Der Duft, von dem ich sprach, übrigens – er kommt tatsächlich von den Bäumen. Er ist jetzt überall in der Stadt.

Ulla Puntschart
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www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 21094

Mein kleines serbisches Tagebuch: Teil 1 – Kirschen aus Novi Sad

Novi Sad, im Frühsommer 2021

Es ist die Kirschenzeit! Überall in der Stadt wird das Obst zum Verkauf angeboten. Auf der Herfahrt hat man die Bäume gesehen, sie bogen sich schwer und schwarz unter ihrer Last. Außerdem gibt es Erdbeeren, Paradeiser und Paprika. Der Verkäufer auf dem Markt wollte, dass ich einen Bund Knoblauch mitnehme, und vielleicht tue ich das, wenn es wieder zurück nach Hause geht. Aber jetzt bin ich erst einmal angekommen. Der Balkon meines Zimmers geht zum Hinterhof hinaus und ist groß und geräumig. Zwei Eisenstühle und ein Cafétischchen ranken sich verschnörkelt und verspielt im nachgebauten Dekor des Fin de Siècle. Die Bäume vom Nachbargrund spenden angenehmen Schatten und über die Mauern wächst der Efeu. So etwas Feines hatte ich noch nie in meinem Reisequartier!

Nur abends wird es laut, denn die Innenstadtlokale in der Umgebung tun, was sie können: entweder schmalzige Musik oder Fußball. Gestern spielte Frankreich gegen Deutschland. Die Teilnehmer waren unschwer zu erraten an ihren Nationalhymnen. Irgendwann wurden hinter dem Hauptplatz Feuerwerkskörper gezündet, ohne dass ich, immer noch am Balkon sitzend, wusste, wem der Jubel galt. Sehen konnte man die Knaller ebenfalls nicht am bedeckten Nachthimmel. In einem gegenüberliegenden Wohnblock hob ein aufgeschreckter Hund zu bellen an und kläffte sich verzweifelt die Seele aus dem Leib, dann fiel ein Artgenosse ein, irgendwann hatten sich die armen Tiere wieder beruhigt. Im Nachbarhaus läuft ständig ein Generator, der sich anhört wie mein Staubsauger zuhause auf Höchststufe.

Zum Glück sind das Fenster und die Balkontüre lärmdicht. Ich gehe früh zu Bett, stehe früh auf und genieße die Ruhe am Morgen. Aber heute Nacht schlief ich schlecht, ich habe geträumt. Dies ist nicht mein erster Aufenthalt in Novi Sad. Vor fast sieben Jahren kam ich zum ersten Mal in diese schöne Stadt an der Donau, die so in jeglicher Hinsicht an der Donau gelegen ist, und habe mich in diesen Platz verliebt. Inzwischen ist es mein vierter Besuch, aber diesmal ist es anders als sonst. Ich habe einen kleinen Rucksack an Sorgen mit im Gepäck. Nichts worüber ich mich lange ausbreiten möchte, ganz im Gegenteil, ich würde die schweren Gedanken am liebsten verdrängen, möchte sie aus meinem Bewusstsein schieben, so gut es geht. Aber sie sind eben da. Das Nagen und Bohren hat sich eingenistet in meinem Hinterkopf, vor allem nachts, wenn die Gelsen auf Angriffsmodus schalten. Dann ist da noch die Pandemie, die hier scheinbar niemanden kümmert, alle sind recht sorglos auf den ersten Blick, auf den zweiten allerdings sind die Straßen etwas leerer als sonst und die Abende nicht so quirlig. Vorerst einmal.

***
Stich, Moskito, Stich!
Brennt und beißt so fürchterlich
Bei-ßen, juk-ken
Kratzen mit den Tatzen
Und wieder so ein neuer Stich!
Ah esbrennt so fürchterlich
Nimm an Spray, sag’n die Leut
Tust ihn rauf
Is a Ruh
San die Muck’n weg wie fix
…nutzt a nix…

***

Ich habe zur Ausstellungseröffnung Geschenke von serbischen Künstlerinnen und Künstlern bekommen. Genauer gesagt, der Ehemann der Malerin O., der perfektes Deutsch spricht, stellte sich mir vor als Marketing-Profi in eigener Sache. Er verkauft selbst gemachte Produkte aus Weihrauch, die er auch in Österreich vertreibt. Ich erhielt ein Stück Seife und eine Dose mit Balsam, beide sind verpackt in hübsche runde Kartonschächtelchen und auf der Packung klebt allerlei Heiliges, denn ein Hauptabnehmer der Produkte ist die serbisch-orthodoxe Kirche. Das macht nichts. Ich mag den aromatischen Duft, wünschte mir nur, der Weihrauch würde ein wenig helfen, die Gelsen zu vertreiben. Was er nicht tut, trotz der vielen erwiesenen therapeutischen Qualitäten des Stoffes. Der zweite Künstler, S. überreichte mir ein kleines Bild, eine Collage mit Ölmalerei kombiniert. Will mir dafür einen schönen Platz ausdenken.

Es ist Abend geworden und Zeit für ein neues Platzkonzert. Die Musik hat sich deutlich verbessert gegenüber dem letzten Mal. Eine Brass-Band spielt populäre Hits und Evergreens im Balkan-Sound, sie spielen gut! Der Anlass des Konzerts ist mir unbekannt. Doch heute Nachmittag war die Haustüre zur Unterkunft abgesperrt, was bisher noch nie der Fall war. Meine kleine Herberge ist nämlich in einem gewöhnlichen Mehrparteienhaus untergebracht. Als ich nun heimkehre vom Einkauf meines ersten serbischen Sendvics, tritt gleichzeitig eine ältere Dame durch die Tür, sie mustert mich misstrauisch und fragt mich etwas, das wohl heißen sollte: Was machen Sie hier? Worauf ich ihr meinen Schlüssel zeige und den Namen des Hostels nenne. Sie entgegnet nichts, steigt langsam und wie mir scheint schon etwas beschwerlich die Treppe hinauf und ich kann ihr ohne Worte ansehen, dass sie sich ärgert über die unzähligen fremden Leute, die hier beständig im Haus ein- und ausgehen. Möglicherweise, so meine Überlegung, besteht ein Zusammenhang zwischen dem abgesperrten Haustor, der argwöhnischen Hausbewohnerin und dem abendlichen Hauptplatz-Event. Ich kann es den Anrainern, die hier tagtäglich leben müssen, nicht verdenken, wenn es ihnen manchmal zu viel wird. Vielleicht gab es schon schlechte Erfahrungen mit unerwünschten Hausbesuchern, wer weiß. Es ist gut möglich.

***

Heute Morgen leuchtete in den Bäumen kurz ein Bild auf, eine Eule mit einem altklugen Gesicht. Eine Laune des Zufalls, die Eule ist das Logo meines Hostels. Es war nur ein Spiel der Sonnenstrahlen auf den Blättern, flüchtig und gleich wieder vergangen. Trotzdem, ein schöner Morgengruß! Die Luft ist schwer. Es duftet, seit gestern Abend schon und die ganze Nacht hindurch. Erst dachte ich, jemand aus dem Haus hätte eine Ladung Raumdeo in seine Lüftung gekippt, doch inzwischen frage ich mich, ob da etwas im Baumgürtel aufgeblüht ist, zum Beispiel Jasmin. Ich denke, es könnte Jasmin sein.

 

Ulla Puntschart
https://ulla-puntschart.jimdo.com/

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 21093

 

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Der Regen wurde schwächer. Ich nahm meine Kapuze ab und blinzelte zum Himmel. Die Bäume um mich herum boten mir Schutz, nahmen mir aber auch die Sicht nach oben. Ich stellte meinen Rucksack auf den Boden und ging eine paar Schritte vor auf die Wiese. Die Donau breitete sich vor mir aus. Hier in der Wachau schlängelte sie sich durch die Wein- und Obstbauterrassen der Gegend. Ich befand mich gerade an einer Donaubiegung und überblickte die glitzernde Wasseroberfläche. Die letzten Regentropfen gaben gemeinsam mit der wieder hervortretenden Sonne einen Regenbogen preis, der den Anblick unwirklich erscheinen ließ.

Saftige Grüntöne, wohin das Auge blickte. Das Wasser schimmerte blau-grau, kleine Wellen plätscherten gegen das Flussufer, das sich nur wenige Meter vor mir befand. Alle paar Minuten veränderte sich die Lichtstimmung, während die Sonne stückchenweise hinter dem Horizont verschwand. Diese Farben waren unbeschreiblich! Die Variationen aus Gelb, Orange, Rot, Lila – warme Farben, beruhigend. Diese Erde hat so viele schöne Plätze und Momente zu bieten und ich hatte noch viel zu wenige davon gesehen und erlebt. Ich machte ein Foto, atmete tief ein und genoss den Moment. Der Geruch der Luft, wenn es gerade geregnet hatte, erzeugte eine wohlige Wärme in mir und ließ meine Muskeln entspannen. Mein Blick wanderte über das gegenüberliegende Ufer. Ab und zu ein Häuschen, keine Menschen. Auch auf dieser Seite des Ufers war es ruhig. Ich befand mich in einer Art Waldinsel, recht klein, abseits der Wanderwege und Straßen. Allein. Perfekt.

Seit rund einer Woche war ich zu Fuß von Wien unterwegs Richtung Passau. Die meiste Zeit hielt ich mich an den Donauradweg, aber wenn es mich wegzog, ging ich einfach abseits der Wege und erkundete die Naturlandschaft. Der Plan war grob gesteckt. Ich hatte vier Wochen Zeit, was sehr großzügig kalkuliert war. Die reine Gehzeit hatte ich mit 17 Tagen berechnet, die restlichen Tage wurden eingeschoben, wenn ich ein Plätzchen genauer erkunden oder auch durch eine nahe gelegene Stadt oder Sehenswürdigkeit flanieren wollte. Für die Nacht suchte ich mir Privatzimmer oder schlief unter freiem Himmel, wenn es das Wetter zuließ. Jetzt war ich hier – und jeden Tag aufs Neue fasziniert. Ich, ein eingefleischtes Stadtkind, hatte mich doch wirklich zu Fuß auf den Weg gemacht. Kein Rad, kein Bus, kein Auto. Per pedes. Ein Grinsen machte sich auf meinen Lippen breit, weil ich wieder mal über mich selbst schmunzeln musste. Keine Ahnung, was da in mich gefahren war, aber ich musste einfach raus. Raus aus der Stadt. Raus aus dem Alltag. Allein. Perfekt.

Ich holte meinen Rucksack vom Waldrand. Den Schlafsack warf ich auf die Wiese, mein Reisetagebuch und ein Schokoriegel flogen hinterher. Ich entledigte mich meiner Regenjacke und schlüpfte in den Schlafsack. Die Luft war warm, der Wind blies sachte über das Wasser und die Wiesen. Einen Baumstumpf, der aus dem Boden ragte, benutzte ich als Rückenlehne. Ich nahm mein Reisetagebuch und knabberte an dem Schokoriegel. Langsam fuhr ich mit meinem Zeigefinger die Buchstaben am Buchdeckel nach: Carpe diem! Nutze den Tag! Ich dachte an meine beste Freundin, die mir das Buch vor meiner Abreise geschenkt und sich mit einer Widmung auf der Innenseite verewigt hatte: „Hey Süße! Schreib, was du denkst, was du fühlst und erlebst! Und mach viele Fotos! Hab Spaß und pass auf dich auf – ich hab dich lieb!“ Sie hatte zwar nicht verstanden, warum ich unbedingt solo durch Österreich laufen musste, aber sie akzeptierte es. Ich hatte es auch nicht gut erklären können. Ich musste einfach allein sein. Perfekt.

Ein Geräusch dicht über meinem Kopf ließ mich zusammenzucken. Ich duckte mich, und im nächsten Moment platschte ein großes weißes Etwas auf das Fußende meines Schlafsacks. Der schuldige Vogel flog knapp über mir hinaus auf das Wasser und hatte sich über mir seines verdauten Mittagessens entledigt. „Oh no! Du bist ja ein nettes Kerlchen, hast du keine Manieren?!“, rief ich dem Vogel lachend nach und ließ meine Arme zur Seite fallen. In Wien hätte ich mich fürchterlich geärgert, geekelt und gestresst. Aber jetzt, hier, inmitten der Natur, deren Ruhe ich mit jedem Atemzug mehr und mehr einsog, entkam mir nur ein phlegmatischer Seufzer. Es war ja nichts dabei, warum sollte man sich darüber aufregen? Natur pur, würde man in der Werbung sagen. Gott sei Dank war kein Stadtmensch dabei. Der hätte mir sicher die Ruhe genommen, die ich schon gewonnen hatte. Allein sein. Perfekt.

Ich schälte mich aus dem Schlafsack und ging damit zum Wasser, um den Dreck abzuwaschen. In meinem Rucksack fand ich noch ein paar Taschentücher, die den Rest erledigten. Dann kuschelte ich mich wieder hinein und suchte die nächste leere Seite. Ich überlegte kurz und begann dann zu schreiben: „Es ist kurz nach acht Uhr abends und ich habe es mir hier im Freien am Donauufer gemütlich gemacht. Es ist so wunderschön hier – siehe Beweisfoto mit Regenbogen … Mir glaubt doch sonst keiner, dass es hier wirklich so aussieht! Ich bin jeden Tag mehr überzeugt davon, dass es das Richtige war, diese Tour zu machen. Daran kann nicht mal der inkontinente Vogel was ändern, der mir gerade auf den Schlafsack gekackt hat. Morgen wird brav weiter marschiert, bis mittags sollte es sich schön ausgehen, dass ich zur Burgruine komme. Den restlichen Tag werde ich dann dort die Gegend etwas unsicher machen. Allein. Perfekt.

Ich legte Buch und Stift beiseite und ließ meinen Blick umherwandern. Hinter mir knackte und raschelte es im Geäst, aber das beunruhigte mich überhaupt nicht. Im Gegenteil. Meine Augen erspähten im dämmrigen Abendlicht eine Smaragdeidechse, die aus einem Freiraum zwischen ein paar größeren Steinen hervorkrabbelte und kurz die Lage checkte, bevor sie in der nächsten Lücke wieder verschwand. Ein kurzer, hoher Pfiff ließ mich den Blick auf eine kleine Böschung lenken, die sich ebenfalls nahe am Ufer befand. Nach ein paar Sekunden sah ich Mama Ziesel, die besorgt am Eingang ihres Baus nach ihrem Nachwuchs Ausschau hielt. Ein erneuter Pfiff, und zwei Jung-Ziesel zischten von den Bäumen hinter mir kommend vorbei zur Böschung und verschwanden gemeinsam mit ihrer Mutter im Bau. Betthupferl war angesagt.

Solche Augenblicke genoss ich mit jeder Faser meines Körpers. Das bewusste Wahrnehmen meiner Umgebung, der Natur, von all der Kleinigkeiten, die laufend geschahen, aber nicht gesehen wurden. Ich sah sie jetzt wieder. Oder vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben so richtig. Und es war wunderschön. Eins zu sein mit der Umgebung. Durch den Schlafsack spürte ich die Unebenheiten des Erdbodens, der mir trotz seiner Unregelmäßigkeit die Stabilität gab, die ich brauchte. Ich roch das nasse Holz des Baumstumpfes hinter mir, der mich trotz seiner eigenen Endlichkeit stützte. Ich hörte den Wind, der sanft durch die Blätter der Bäume und über das Wasser glitt und mir trotz seiner Unberechenbarkeit ein Gefühl der Freiheit vermittelte. Rundherum machte das Licht den nächtlichen Schatten Platz und ich starrte auf die Sterne über mir, die immer mehr wurden. Einfach so. Bis ich irgendwann einschlief. Allein. Und doch verbunden. Perfekt.

Verfasst im Juli 2020

Petra Hechenberger

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 21060

Ich gehe auf Wolken

Ich gehe auf Wolken.
Mit meinen Fußsohlen spüre ich ihren Widerstand.
Eine Feder würde durch sie fallen.
Wie leicht mag ich nur sein?
Die Luft ist schon dünn, doch das macht mir nichts aus.
Seltsamerweise weht mich der Wind nicht davon.
Ich werde weitergehen, bis es keine Wolke mehr gibt,
dort werde ich warten.
Wird mich auch der Nebel tragen?

Wald, Stein und Wolken

Wald, Stein und Wolken

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 21045

Das Fenster

Schaue ich aus dem Fenster meines Zimmers, sehe ich die Bäume am Waldrand. Aber trete ich ins Freie, ist da nur Weiß, keine Materie, nur Licht als Farbe.

„Wo bin ich?“, frage ich mich selbst. „Ich bin vor meinem Haus“, ist die logische Antwort.

Ich gehe wieder ins Haus und auf mein Zimmer. Hinter dem Fenster sehe ich wieder die Bäume, später auch eine Amsel und noch später ein Eichhörnchen dazu.

Hinter dem Fenster

Hinter dem Fenster

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 20113

Automatisch

So verworren, so verworren,
keine Ordnung, nicht, nicht.
Und doch steigt jeden Morgen die Sonne hoch
und verschwindet für die Nacht.
Automatisch, automatisch,
du musst nichts tun.
Herrlich ist der Himmel anzuschaun.
Und siehst du nicht hin, ist er trotzdem da.

Das Sonnenblumenfeld am 14. September 2020 in Pritschitz

Das Sonnenblumenfeld am 14. September 2020 in Pritschitz

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 21004

 

Sommermorgenland

Als der Läufer sein Haus verließ,
waren die Scheiben der Autos noch beschlagen.
Die Sonne kroch hinter den Bäumen hervor.
Dunst lag auf den kleinen Bergen hinter dem See.
Der Aussichtsturm wartete, von Touristen bestiegen zu werden,
und die Kirche auf die sonntäglich Betenden.

Blick vom Strandbad Klagenfurt im Dezember zum Pyramidenkogel über den Wolken

Blick vom Strandbad Klagenfurt im Dezember zum Pyramidenkogel über den Wolken

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 20099

Corona-Tagebuch: Maskenball und Taxifahrer

2. Mai 20, der Tag nach der Befreiung

Wer einen Garten hat, ist meist ein Besessener. Ich dilettiere nur, aber die Leidenschaft ist sicher nicht kleiner. Noch dazu, wenn es März ist und die Frühjahrsarbeit wartet. Schließlich hängt der Rest des Jahres davon ab, die Schönheit, die Freude, der Ertrag. In diesem Jahr ohne Winter habe ich schon früher begonnen. Das erste waren Aufräumarbeiten, bei mir vor allem der Kampf gegen die „Nadelhölle“, die mir eine sehr hohe und alte Föhre auf meinem Grundstück bereitet. Der fast immer wehende Westwind schüttelt dazu noch viele Bockerl und Äste vom Baum. Da kam Corona in unser Leben und die staatlich verordnete Ausgangssperre für die „Risikogruppe“, zu der ich altersmäßig eingeteilt wurde. Niemand hat gefragt, wie alt ich mich fühle, wie gesund oder krank ich wirklich bin, ob Krankheit oder Beeinträchtigung zu einem erhöhten Risikofaktor führen – für mich selbst oder andere.
Weil ich gesund bin und keine Vorerkrankung aufweise, habe ich mich keinen einzigen Tag eingeschränkt. Im Rucksack führte ich als Camouflage immer Lebensmittel und Medikamente mit mir, sollte ich polizeilich kontrolliert werden. Also waren schon zwei der vier Ausnahmebedingungen erfüllt: Lebensmittel einkaufen und zur Apotheke gehen dürfen. Vermummt bin ich schon lange vor Covid-19 herumgelaufen, weil ich eine unerkannte Allergie habe, allgemein Rhinitis genannt, mit der die Nase dauerrinnt.

So war das Aufkommen der Masken und die Maskenpflicht geradezu eine Erlösung für mich (Motto: Always look on the bright side of life). Die Schals um Nase und Mund rutschten immer und waren entsetzlich heiß und feucht mit dem Ballen von Taschentüchern darin. Oft dachte ich nach, wie man so etwas wie bei den Teekannen für die Nase machen könnte, einen Tropfenfänger, dieses Schaumgummiröllchen, das bei Tante Paula mit einem Gummiband um den Teekannenschnabel angebracht wurde. Aber meine Nase hat nun einmal nicht die Anatomie eines Teekannenausgusses.

Als zweiten Vorteil der Maskenpflicht empfand ich, dass ich nicht mehr allein mit verhülltem Gesicht herumlief. Meine albanische Änderungsschneiderin von nebenan, Miranda Martini – sie heißt wirklich so oder es steht zumindest so auf ihrem Geschäftsschild – stellte sich schnell auf die Produktion von Masken um und bot eine bunte Auswahl von Baumwollmodellen in ihrer Auslage an. Sie hat sie auf einem Baumast aufgehängt – die Osterdekoration dieses denkwürdigen Jahres. Ich kaufte gleich zehn Stück zu je 10 € und hatte die originellsten nicht nur selbst im Gesicht, sondern als Ostergeschenke parat. Natürlich nicht selbst übergeben oder im Osternest versteckt, sondern mit der Post verschickt.

Jaja, die Masken, das wird noch einmal ein Thema für Soziologen und Modehistoriker werden, der Maskenball von 2020. Da ich viel mit den Öffis fahre, sehe ich mir die Modelle gerne an. Abgesehen von den einfachen, türkisen (niemand denkt dabei an die Kanzlerpartei) Supermarktmasken aus China, gibt es viel Individualität zu bemerken. Von den alten Palästinensertüchern bis zu Rapid-Schals, von Alpenvereins-Blümchentüchern bis zu den schwarzen Rocker- und Bikermasken – fast nichts kommt nicht vor. Einige Totenkopfmasken habe ich schon gesehen oder den zugenähten Mund von Hannibal Lecter. Dazu Mickey Mouse, Spiderman und Hexenzähne, als sei der abgesagte Fasching in den März und den April verrutscht. Exotisch wirkt auf mich der Anblick von Kopftuchfrauen, besonders wenn sie Brillen tragen, über der Maske noch Kopfhörer aufhaben und aus den Ohren Kabel baumeln, Riesenameisen nicht unähnlich. Einmal sah ich in der U-Bahn einen Typ mit einer Gasmaske.

Natürlich gibt es auch die kleine Gruppe der Vermeider, die in den Öffis die Masken zusammengeschoben unter dem Kinn tragen. Erinnert mich an die Einführung der Gurtenpflicht – wann war das? –, als manche Autofahrer pro forma den Gurt nur lose um den Oberkörper gelegt hatten. Als die polizeilichen Kontrollen in der U-Bahn besonders intensiv wurden – das Osterwochenende – stieg ich vollständig auf Taxi um. Begünstigt durch die Gemeinde Wien – Wahl steht bevor –, die an die Teilnehmer der Risikogruppe kostenlose Gutscheine für 50 € ausgab. Mein Nachbar, 85 und Autofahrer, gab mir seine dazu. E-Mail geschrieben und nach vier Tagen zugeschickt bekommen. 20 5-€-Gutscheine, blassgelb, die irgendwie an Lebensmittelkupons aus historischen Dokumentationen erinnern.
Als diese verbraucht waren, beschloss ich, das leidende Taxi-Gewerbe privat zu unterstützen und ließ mich mercedesmäßig zu meinem Garten hinausschaukeln. Außerdem hatte ich immer viel Gepäck dabei: Übersiedlung in die Hütte nach dem Winter, neu gekaufte Pflanzen, Blumenerde, Rasensamen, Schneckenkorn, Konserven, Klopapier.

So kam ich als leidenschaftliche Öffifahrerin in kurzer Zeit mit dem bunten Völkchen der Taxifahrer in Kontakt.
Am Ostermontag, einen Tag vor der Einführung der verpflichtenden Maske, trug einer keine. Ich hielt die Türe auf und bellte hinein: Maske, bitte!
Er: Erst morgen.
Typ Pakistani, er tippte mit seinem Finger wortlos gegen die Stirn, der Vogel, zumindest so viel Wienerisch hat er schon gelernt.
Ich: Okay, dann fahre ich nicht mit Ihnen.
Schlug die Tür zu und holte meine Bagage wieder aus seinem Kofferraum heraus und ging zum hinter ihm stehenden Wagen. Der war leider kein Mercedes, sondern ein klappriger Japaner. Auch dieser Driver trug keine Maske. Also zum dritten, ein geräumiger VW, geht auch. Der hatte die Maske unterm Kinn und die Sonnenbrille über der Stirn. Auf der bunten Gratiszeitung, die er neben sich liegen hatte, stand in Riesenlettern „Ab morgen – Österreich maskiert!“ Ein paar Tage später traf ich wieder auf den Pakistani, jetzt hatte er schon eine Maske auf.

Eine andere Taxi-Fahrt von Hütteldorf zu mir nach Hause brachte mir hohen Gewinn.
Ein junger, asiatisch aussehender Mann konnte relativ gut Deutsch, und wir kamen ins Gespräch. Ich frage immer ausländische Taxifahrer nach ihrer Herkunft, mir wurscht, ob political correct oder nicht, ich bin neugierig. Einmal Journalistin, immer Journalistin. Und meistens freuen sie sich, wenn man sie nach ihrer Herkunft fragt, das ist meine subjektive Beobachtung.
Das Gespräch begann mit meinem Garten, wo ich gerade ein paar Heidelbeersträucher gepflanzt hatte.
Ah, Heidelbeeren, die macht meine Frau auch immer, gut für Blut und noch viel mehr.
Er kicherte und griff sich zwischen die Beine.
Er bezeichnete sich als Ainu. Zufällig wusste ich, was die Ainu sind. Doch zufällig ist nichts, aber ich wusste, dass die Ainu die Urbevölkerung der nördlichsten Insel Japans Hokkaido sind und auch der Kurilen. Dass der Zweite Weltkrieg zwischen Russland und Japan wegen der Kurilen offiziell noch immer nicht beendet ist. Noch dazu hatte ich kurz davor auf arte eine Doku über „Japans wilde Inseln“ gesehen, Hokkaido im Mittelpunkt. Als ich auch noch die Erinnerungen und die Bilder auspackte, die Fernseh-Bilder von den in warmen Naturbecken planschenden Makaken, den japanischen Schneeaffen, die einander lausen und kosen, und auch noch von den aus Sibirien einfliegenden Kranichen und ihren Brauttänzen erzählen konnte, da ließ er das Lenkrad los und klatschte vor Freude in die Hände, dass er fast die scharfe Linkskurve beim Amtshaus in der Schönbrunnerstraße zur Pilgrambrücke nicht geschafft hätte.

Wegen des Kurilen-Problems zwischen Russland und Japan habe ich mich mit den Ainu beschäftigt und wusste, dass sie nach der sowjetischen Besetzung versklavt und fast völlig ausgerottet wurden. Als ich ihm meine Erinnerungen an die TV-Bilder schilderte, war er so begeistert von seinem Fahrgast, dass er kein Geld verlangen wollte und mich zu sich, seiner Frau und zu Heidelbeersaft einlud. Aber ich entstieg seinem Gefährt an der Waaggasse und zahlte ihm dagegen den doppelten Fuhrpreis. Scheiß drauf, das muss auch noch drin sein in diesen ungewöhnlichen Zeiten. Er war schließlich der erste Ainu meines Lebens.
Er hat mir noch gesagt, dass er vier Stunden am Platz gestanden ist ohne einen einzigen Fahrgast. Jetzt fährt er nach Hause.

Wieder eine Fahrt zurück ins Zentrum. Zwar kein Mercedes, dafür aber ein junger Mann, Wiener Türke mit Maske. Er spricht perfekt Wienerisch, schätze Ottakring.
Eigentlich hat er Architektur studiert. Warum nicht weiter? Familie, geheiratet, gleich Kind, brauchte Geld. Aber er will immer noch Architekt werden, vielleicht aber auch erst mein Sohn, lacht er. Die Art und Weise, wie er das Lenkrad berührte, unmerklich mit den Fingerkuppen lenkte, als würde er einen Kinderkopf streicheln, da sah ich ihn mit Bleistift , Zirkel und Lineal, den Architekten.
Worüber wir zu reden angefangen haben, weiß ich nicht mehr so genau, ich glaube, ich lobte ihn für seine gute und intelligente Fahrweise, geschmeidig und flott, ohne dass er jemals die Geschwindigkeitsbeschränkung von 50 überschritten hätte. Alle Kanaldeckel und Schienen überfuhr er ohne Erschütterungen. Ich hatte ja nun schon genügend Driver auf meinen Wegen dahin und dorthin erlebt, aber dieser war genial. Er schaffte die Strecke nicht nur in viel kürzerer Zeit, schlängelte sich elegant durch den mäßigen Verkehr wie ein Fisch im Schwarm, sondern schaffte es auch noch auf den Niedrigstpreis von 15,20 €, während die anderen immer um die 20 verlangten.

Ein Fahrer aus Sri Lanka mit Sikkh-Turban, der in Simmering wohnt, war noch nie so weit im Westen von Wien.
Gar nicht sattsehen konnte ich mich an seinem Aussehen. Er trug einen himmelblauen Turban und eine gelbe Jacke, wie sie Krone-Verkäufer anhaben, ein Paradiesvogel. Das Gesicht war fast vollständig zugewachsen mit einem graumelierten Bart, der ihm weit auf die Brust reichte. Vor Mund und Nase hatte er vorschriftsmäßig die Maske gespannt, die musste aber zwergnasemäßig groß sein, weil aus den Falten ein Riesenhöcker ragte. Sein Bart war so breit, dass die Nase erweiterte Flügel zu haben schien.
Aber je weiter wir ins Rosental fuhren, desto unruhiger wurde er.

Sind wir wirklich noch in Wien?
Er hatte Angst, der Tarif ins Bundesland ist anders.
Ja, das ist Penzing, Hütteldorf, 14. Bezirk, das Rosental.
Er manipulierte an seinem GPS am Mini-Bildschirm herum und fand das Rosental nicht.
Seines sagt ihm Rosentalstraße, ich sage Rosentalgasse.
Ich immer nur Simmering und Donaustadt.
Ich bemühe mich: Linzerstraße, Rosental, Dehnepark, Satzberg und links steil hinauf ein paar Kurven in eine Gartensiedlung.
Nicht Niederösterreich? Immer Wien?
Ja, immer Wien, 14. Bezirk, der ist so grün.

Als ich am Rosenhang seinem Gefährt entstieg und er mir mit dem Gepäck half, schaute er sich um, all die blühenden Obstbäume, der Flieder, die Forsythien in den Gärten, hellgrüne Hügel, die schmucken Häuschen, Villen und Pools, er drehte sich mehrmals um sich selbst und kam aus dem Staunen nicht heraus.
Ist teuer hier?
Ich weiß nicht, ich miete.
Glück gehabt.
Dabei hat er nicht einmal die dramatischen Felsenklippen und den Silbersee am Satzberg gesehen, nicht den „Vatikan des Wienerwaldes“, die über dem Waldrand thronende goldene Kuppel der Otto-Wagner-Kirche, die ihn vielleicht an eine Pagode seiner Heimat erinnert hätte.
Ja, wirklich Glück gehabt, denke ich, als ich mein Gepäck zu meiner Hütte schleppe.

Die gesprächigste Fahrt machte ich mit einem Bosnier, als der er sich sofort vorstellte.
Odakle ste?
Da riss es ihn herum, als hätte ihn jemand ins Genick geschlagen.
Er klappte den Rückspiegel herunter und holte einige Fotos hervor.
Das ist mein Haus in Velika Kladuscha.
Ein großes, dreistöckiges, noch unverputztes Haus mit rotem Ziegeldach zwischen grünen Hügeln, im Tal ein Fluss, das ist die Una, dort gibt es viele Fische, wunderbare Wälder, er kommt ins Schwärmen, Heimat eben.
Das Haus hab ich selbst gebaut. Jetzt leben nur meine Eltern dort. Aber ich komme oft auf Besuch, muss noch weiterbauen. Frage mich, nur für wen? Werden seine Kinder dorthin zurückkehren und dort leben wollen?
Er sprach fast perfektes Deutsch. Knapp nach Ausbruch des Krieges 1991 ist er nach Deutschland gegangen und hat am Bau gearbeitet, erzählt er, später nach Wien und ist schon lange Fahrer bei 40 100.

Ich erzähle ihm, dass ich Erinnerungen an Velika Kladuscha habe, ein Großdorf gleich hinter der kroatisch-bosnischen Grenze. Der Krieg war noch nicht voll ausgebrochen, aber Velika Kladuscha hatte sich schon in drei Zonen geteilt. Am Dorfrand, von Norden kommend, hatten sich kroatische Einheiten festgesetzt, die Mitte mit Burg und Moschee wurde von Bosniaken gehalten, der südliche Rand von den Serben. Wir mussten dreimal verhandeln, um weiter nach Sarajewo zu kommen. Später kam noch eine vierte Front dazu, die Truppen von Fikret Abdic, dem früheren Direktor des mächtigen Konzers „Agrokomerz“.

Mein Fahrer schnaubte. Ja, alle waren verrückt, damals. Ich wollte da nicht mitmachen und bin abgehauen. Alle sind Lügner, alle betrügen einander und die ganze Welt. Glauben Sie nie etwas, was Ihnen ein Jugo sagt. Ihm auch nicht? Wie oft habe ich solche Schutzbehauptungen schon gehört. So richtet sich jeder seine Vergangenheit zurecht, damit er irgendwie weiterleben kann. Vom Alter und der Statur her könnte er ein Kämpfer gewesen sein, auf welcher Seite auch immer.
Das war meine bisher letzte Fahrt ins Rosental hinaus, mit einem Taxi, da wir aus der Quarantäne entlassen worden sind. Zumindest meine Kulturstudien werde ich vermissen.

Wien, 2. Mai 20

Veronika Seyr
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