Schlagwort-Archiv: ¿Qué será será?

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zeitlos

Die Zeit hat sich vom Raum gelöst.
Den Raum kann man nicht abschaffen,
aber es gibt keine Zeit mehr.
„Wann?“ ist ein unbekanntes Wort geworden,
ebenso wie niemand eine Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft kennt.
Alles vergessen in dem Moment, in dem die Zeit aufhörte zu existieren.

GOTT BEHÜTE UNS VOR TEUREN ZEITEN VOR MAURER UND (Z)IMMERLEUTEN

GOTT BEHÜTE UNS VOR TEUREN ZEITEN VOR MAURER UND (Z)IMMERLEUTEN

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 23034

Chorus 2023

Ich wollte einst zu euch drängen
Mit all meiner Kapazität
Und jetzt, da die Zeilen sich engen
Da merk ich, es ist zu spät

Nichts gilt mehr, was einst gegolten
Nur noch der Mächtigen Wort
Das, was wir einst so sehr wollten
Ist abgewendet und fort

Wir wollten die Welt doch singen
Wider alle Vernunft
Doch durch höchst vernünftiges Dringen
Suchen wir Unterkunft

Unterkunft und Bleiben
Verstecken ist jetzt unser Ziel
Und doch ist dies alles zum Speiben
Egal, wie gesundet man’s will

Noch treffen wir uns mit Freunden
Bekannt von früher her
Doch zu der Stunde, der neunten
Sind wir nervös, aber sehr

Denn morgens in aller Frühe
Wie uns’re Eltern einst auch
Trinken wir die Kaffeebrühe
Und folgen dem Arbeitsbrauch

Ach, meine Brüder und Schwestern
Dies ist ein altes Lied
Man bricht uns heute wie gestern
Noch unser letztes Glied

Die Glieder und die Knochen
Und all uns’re Kapazität
Nach bleiernen Arbeitswochen
Kommt all uns’re Hilfe zu spät

Der Glieder bräucht’s aber viele
Zu bilden die Kette nun
Die letzte Kette der Hilfe
Um viele Hilfe zu tun

So lasst uns endlich flechten
Ein neues Weltgeflecht
Wer würde uns denn rechten
Hauptsache, es ist gerecht

Die alte Welt, sie endet
In Schmerzen und in Pein
So lasst uns Teil der neuen
Und gegenwärtig sein!

FÜRS UFO!

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 23033

 

 

 

Palmström über das Jahr 2022

Und man fragt sich, was das war
Dieses zweifelhafte Jahr
Zweifelhaft, ja sicherlich!
Verzwiefacht doch der Zweier sich
Immer wenn ich’s niederschreibe
Nach der blanken Nuller-Scheibe

Drei Zweier stehen also da
Wo vorher doch nur einer war
Nichtige Vertripelung
Die da dem reinen Nichts entsprung
Weder hat das Recht noch Fug
Ich sag’s: Dies ist Binärbetrug!

Wen wundert’s, wenn die Währung bläht
Und bald die Welt in Flammen steht!
Nur die trinitäre Drei
Befreit uns aus der Spiegelei!
Eine Zahl wie ein Gefäß
Ein in sich ruhendes Gesäß

Wenn heilige Trinitität
Der Jahreszahl zuhinterst steht
Und bezwingt die Zweierbrut
Wird’s am Ende doch noch gut!

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 22139

 

 

 

 

Meine Königin

Ich bin der Richtige für dich, Baby.
Lass mich es dir beweisen.
Du wirst meine Königin sein.
Hundertzwanzig Lakaien werden dich bedienen.
Dir wird es an nichts mangeln.
Und du wirst dir nichts mehr wünschen,
weil du schon alles hast.

JACK’S BURGER

JACK’S BURGER

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 22132

Der letzte Mensch

Und dann war er ganz allein
Der letzte Mensch.
Niemand außer ihm.
Wenn er schreit, hören ihn nur Tiere.
Und Gott?, ist hier das Paradies?
Dann könnte er Gott um eine Gefährtin bitten.
Für eine seiner Rippen, das ist ein guter Preis.
Aber nein, ganz und gar nicht ist er hier im Paradies.
Er ist in der Zukunft.
Auch wenn diese Zukunft nur einen Tag von gestern entfernt ist,
ist er der Einzige, der übriggeblieben ist.

Das harte Leben

Das harte Leben

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 22073

Lara erzählt

Warum ich keine Beachtung mehr finde, weiß ich wirklich nicht. Ich bin ganz die Alte, zuverlässig, bin da für sie, halte zusammen, was geht; das sind meine Kernaufgaben, mehr kann sie doch nicht verlangen von mir. Ob ich ihr einfach nicht mehr gefalle?

Aber vielleicht liegt es auch an was anderem, für das ich nichts kann? Ich wäre bereit für meinen Einsatz, würde meine Rolle gern so spielen wie früher, sie umfangen, kosen und beschützen, aber ich werde einfach nicht mehr angesehen, nicht mehr berührt, ich friste nun schon seit so langer Zeit ein trauriges Dasein. Und drum dachte ich, ich melde mich jetzt auch einmal zu Wort und erzähle meine Geschichte, statt immer nur still zu leiden und damit zu hadern, dass nichts mehr ist wie früher … Damals als wir nach unserer ersten Begegnung schon bald gemeinsam auf dem großen Badetuch lagen, ich eng an ihren Körper geschmiegt, wir beide von der Sonne gewärmt und schließlich getrocknet, wir zogen alle Blicke auf uns, waren eins, unzertrennlich, einen ganzen Sommer lang und darüber hinaus.

Es fing mir gegenüber mit kleinen, oft auch lautstark geäußerten Beschwerden an, was alles nicht mehr passe, angeblich, was sie sich nicht länger anschauen möchte, was sich alles ändern sollte, damit es wieder so sei wie früher. Und ich glaub auch nicht, dass ich irgendwas an ihrer Meinung ändern hätte können, ach, vermutlich hätte ich, um sie umzustimmen, rein gar nichts sagen oder tun können, selbst wenn ich dazu imstande gewesen wäre. Ich war einfach nur verblüfft, wie die Freude, die sie früher an meiner Anwesenheit hatte, so umgeschlagen war in blanke Ablehnung. Wie sie alles vergessen hatte können, was wir gemeinsam erlebt hatten, dass wir wie geschaffen gewesen waren für einander, ein Traumpaar: Es war mir ein Rätsel.

Die Zeit sei nicht spurlos an ihr vorübergegangen, es sei ein Desaster, klagte sie einmal vor dem Spiegel, ich war um die Ecke im Schrankraum und konnte es nicht glauben: Das war es also??? Sie kam mit dem Altern nicht zurecht, und darum lehnte sie mich ab?

Was hatte sie vor? Sich ein jüngeres Modell zu suchen, würde sie wohl auch nicht besser aussehen lassen. Ich verstand sie nicht und im selben Moment doch: Es war vorbei. Unser Zeitfenster war geschlossen. Es war schön gewesen. Ich war ihre Wahl gewesen, und nun wollte sie mich nicht mehr.

Aber ich hab mich dann trotzdem getröstet. Im Altkleidersack traf ich etliche Unterwäschestücke, die sie früher gern getragen hatte, eine Stretchjeans und drei heiße Miniröcke. Sie alle erzählten mir, sie hätten dasselbe Schicksal erlitten. Allerdings waren sie auch etwas fies zu mir. Merkten sie doch glatt an, dass Glitzerbikinis allgemein den Ruf hätten, etwas divenhaft zu sein und Dinge zu persönlich zu nehmen. Und ich sei da keine Ausnahme. Das war es also vorerst mit dem Modell Lara. Vielleicht mag mich ja schon bald eine andere, ich bin gespannt, wer die Nächste ist, die mich ausführen möchte.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 22059

Gestern, heute, morgen: Sonntag

Sonntags wird am Stammtisch pünktlich mit dem Zwölfuhrläuten der letzte Rest Bierschaum eilig hinuntergekippt. Die Stühle werden über den knarzenden Holzboden zurückgeschoben, die Jacken angezogen und tiefe Männerstimmen lachen noch über einen schnell hingeworfenen Witz, egal ob anzüglich oder nicht. Die Zeche beim Wirt wird jetzt bezahlt oder auch erst zum Monatsletzten die Frau wartet ja, das Essen auf dem Herd. Man klopft sich noch schnell auf die Schultern, zufrieden mit sich und den alten Geschichten, die auf ewig lustig sind, weil sie auf ewig immer gleich erzählt werden.

Gestern. Das Zwölfuhrläuten war noch nicht ganz verklungen, als Jakob vom verrauchten und mit Männerdunst vernebelten Kellerwirt ins Freie trat. Er atmete die klirrend kalte Luft tief ein und hob noch einmal die Hand zum Gruß, als er die Kellnerin sah, die sich für eine schnelle Zigarette vor die Garage gestellt hatte.

Als Jakob den Dorfplatz überquerte, flogen ihm zarte Schneeflocken ins Gesicht, die sofort auf seiner verschwitzten Haut schmolzen. Der erste Schnee, dachte er und bog in die Glasergasse ein. Schon so früh heuer. Seine Frau Gerti würde wohl heute die ersten Futterknödel für die Amseln aufhängen.

Während er beschwingt den Aufstieg Richtung trautes Heim in Angriff nahm, spürte er leichten Schwindel. Oder war da zuerst das Schlittern seiner Füße auf dem glatten Gehweg gewesen? Er rutschte jedenfalls, riss die Arme in die Luft und die Beine nach vorne und für den Bruchteil einer Sekunde schwebte Jakob in der Luft, durch keinen seiner Körperteile mit der Erde verbunden. Dann fiel er nach hinten und stieß sich den Kopf an der Bordsteinkante.

Heute. Ein scharfer, stechender Schmerz durchzuckt seinen Körper und klingt mit immer kürzer werdenden Wellen ab. Vorsichtig betastet Jakob seinen Hinterkopf. Kein Blut, aber eine Beule würde es wohl werden. Er setzt sich langsam auf und sieht sich um. Es ist niemand da, nur der Schnee fällt noch still vom grauen Himmel und bedeckt nach und nach die schmale Gasse.

Unter Ächzen und Stöhnen schafft es Jakob, sich aufzurichten. Vorsichtig stützt er sich an den Hausmauern ab und setzt Schritt für Schritt seine schweren Stiefel hintereinander. Als er endlich ganz oben ist, biegt er nach rechts, an der alten Linde vorbei, und zwei Häuser weiter geht er durch das Gartentor. Der Schmerz hat nun nachgelassen, aber der Schwindel ist noch immer da. Er würde Gerti bitten, ihm einen heißen Tee zu machen und eine Packung Tiefkühlgemüse gegen die Beule zu halten.

Als er den Schlüssel aus der Jackentasche zieht und in das Schloss schiebt, will dieser sich nicht drehen lassen. Jakob lehnt sich stöhnend gegen die Hausmauer. Er hat wohl mehr getrunken, als er ursprünglich gedacht hat. Ein Hund bellt und kratzt von innen an der Haustür. Jakob stutzt. Sie haben keinen Hund. Er tritt ein paar Schritte zurück, hebt vorsichtig den Kopf, dreht sich hin und her und blickt vom Gartentor zur Haustür und wieder zurück. Es ist sein Haus und doch nicht sein Haus. Er erkennt die Einfahrt, das Gartentor, das Blumenbeet unter dem Küchenfenster, das er selbst mit Flusssteinen umgrenzt hat. Aber er erkennt weder die neue zitronengelbe Hauswandfarbe noch den Postkasten, der die Form einer übergewichtigen Katze hat.

Die Türe schwingt auf und eine junge Frau stürzt heraus. „Papa“, ruft sie, ergreift Jakob am Arm und zieht ihn sanft in das Haus hinein. „Was machst du denn? Bist du wieder ausgerissen?“ Ein kleines weißes Fellbündel springt an ihm hoch und versucht seine Hände zu lecken. Reflexartig reißt Jakob seine Hände nach oben und stößt damit die junge Frau zur Seite. Sie verschränkt die Arme vor dem Körper, legt den Kopf schief und seufzt: „Ach, Papa.“

„Entschuldigung! Ich glaub, ich bin im falschen Haus.“ Jakob wendet sich von der Frau ab, als diese ihm eine Hand auf den Arm legt. „Komm doch mal rein, wärm dich auf. Wir werden das schon regeln!“ Ihr Ton ist leise, aber bestimmend, und Jakob lässt sich durch den Flur in die Küche führen.

Dort läuft ihm ein kleines Mädchen entgegen, mit dem lockigen Haarschopf seiner Tochter, doch mit fremden Augen, fremder Nase und fremdem Mund. „Opa, Opa!“, jauchzt sie und nimmt ihn bei der Hand. Völlig perplex lässt sich Jakob von ihr zum Küchentisch ziehen und plumpst auf die Bank. Das Mädchen klettert auf seinen Schoß und schmiegt sich an ihn.

„Ich habe Kaffee aufgesetzt, Papa. Willst du auch einen?“ Jakob sieht die Frau entgeistert an. „Bitte“, bringt er stockend heraus. „Wo bin ich denn hier?“ Das Mädchen auf seinem Schoß betrachtet ihn vorwurfsvoll aus großen Kinderaugen. „Aber Opa! Du bist bei uns. Bei Mama, bei Papa und bei mir. Wiesenweg Nummer fünf.“

„Wiesenweg fünf?“ Jakob merkt wie seine Stimme immer brüchiger wird. „Das ist meine Adresse.“ Die Frau seufzt und stellt ein Tablett mit Tassen und Teller auf den Tisch. „Ja, Papa. Du hast hier mal gewohnt. Bis vor“, sie überlegt einen Moment, „ziemlich genau neun Jahren – als Mama gestorben ist.“

„Mama?“ Jakob versteht noch immer nicht. Verdutzt nimmt er die ihm dargereichte Tasse mit Kaffee in die Hand. Die Frau streichelt behutsam seinen Arm, als ob er ein verletztes Tier wäre. „Mama, deine Frau Gertraud. Ich bin Katharina, deine Tochter. Das ist Luise, deine Enkelin. Und du bist wahrscheinlich wieder aus dem Seniorenzentrum ausgebüxt und hast den Bus genommen, stimmt’s?“

Ohne auf seine Antwort zu warten, steht sie auf und zieht ihr Handy aus der Tasche. „Ich ruf dort mal an.“ Das kleine Mädchen – Luise, heißt sie wohl – ist von seinem Schoß geklettert und er führt zitternd die Tasse mit dem heißen Kaffee zum Mund. Er betastet seinen Kopf. Da ist sie, die Beule.

Vor einer Stunde ist er noch im Wirtshaus gesessen und hat mit seinen Spezis ein paar Bier getrunken. Gerti hat ihm an diesem Morgen, mit der kleinen Katharina auf dem Arm, noch aus dem Küchenfenster nachgeschimpft, weil er ohne Mütze losgezogen war. Und jetzt gibt es sie nicht mehr. Mein Gott, wie die Zeit vergeht! Er blickt auf die Küchenuhr.

Es ist zwölf Minuten nach zwölf. Morgen.

Nene Stark

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 22028

Uraufführung

Vorher war alles normal
Dass ich nicht lache
Und nie laut.

Vorher waren Tränen echt
Egal ob gepresst, unterdrückt
Oder aus dem Luxus gesogen.

Vorher war nur das Rütteln daran
Die sinnlosen Diskussionen,
Das am Absatz Umdrehen und Gehen.

Vorher wussten doch alle was davon
Was es bedeutet,
Was ein Danach bewirkt.

Vorher war alles Konsequenz
Dass wir nicht proben
Und nie gut.

Stephan Tikatsch
blindkohlekopie | Gedichte | S.Tikatsch_2019

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 22022

Nein danke

Im Büro 042 sitzt ein glatzköpfiger Mann hinter einem minimalistischen Schreibtisch und schaut mich verdutzt an. Alles hier ist minimalistisch: das Gebäude, die Ausstattung des Büros und sogar die Haare auf seinem Kopf.
Es geht darum, mein Handy abzugeben. Ich will es nicht mehr. Schon seit drei Monaten nicht. Nach zahlreichen Mails, Digital Calls in Warteschleifen und sogar analogen Anrufen in der Zentrale habe ich beschlossen, selbst herzufahren. Zur Außenstelle für Human Interaction.
Als ich endlich da bin, muss ich mich via Bluetooth einloggen. „Herzlich willkommen“, begrüßt mich eine fröhliche Frauenstimme und mein Auto fährt hinein.
Den Termin habe ich schon vorab reserviert, ich konnte mir sogar den menschlichen Berater auf der Website aussuchen. Herrn F.s Profil sah nett aus, also buchte ich bei ihm.

Es ist nicht leicht, das Handy loszuwerden. Früher konnten wir es ausschalten, wegwerfen, die SIM-Card vernichten oder den Akku herausschneiden. Das kann man schon seit einigen Jahren nicht mehr. Die jetzigen Handys haben Dauerbetrieb, sind unzerstörbar und immer online. Falls man es verliert, es doch irgendwie kaputt gehen sollte oder es gestohlen wird, sendet das Handy ein Notsignal zu nozamA. Binnen zwölf Stunden wird ein neues Handy vor die Tür geliefert.

Wird das Handy länger als acht Stunden nicht benützt, wird man diesbezüglich kontaktiert. Bei Nichtgebrauch von mehr als 14 Stunden bekommen Verwandte und Freunde eine Notifikation, um festzustellen, ob auch wirklich alles in Ordnung ist. Nach 24 Stunden werden Nachbarn, Geschäftsleute in der Nähe und Arbeitskollegen informiert  und nach 48 Stunden wird schließlich die Polizei alarmiert.
Security Check In, nennt sich das und ist nicht optional.
Mein Offline-Rekord betrug 134 Stunden. Dabei erhielt ich via Versand zwölf neue Handys, die ich nun zurückgeben möchte. Freunde, Familie, Kollegen und die Polizei waren ganz schön sauer auf mich. Es tut mir ja auch leid. Ich will wirklich nicht, dass das ständig passiert. Darum bin ich jetzt hier.

Herr F. sieht mich nun also verdutzt an. „Aber“, bringt er unter der minimalistischen FFP2-Maske hervor, „Aber ohne Handy ... wie wollen Sie dann kommunizieren? Wie wollen Sie Ihr Auto steuern, Einkäufe erledigen oder medizinische Versorgung in Anspruch nehmen?“
„In der Tat schwierig“, stimme ich ihm zu. „ Aber ich habe vor, mein Auto abzugeben. Ich möchte mich zurückziehen. Mein Keller ist voller Lebensmittel, ich habe eine Freundin, die mir bereitwillig Essen vorbeibringen und mich zu Arztterminen fahren wird. Seit Anfang des Jahres hat die Regierung wieder Bargeld als Zahlungsmittel erlaubt und zum Glück gibt es Haftpflicht- sowie Krankenversicherung auch ohne Handy. Das ist zwar teurer, aber ich kann mir das leisten. Zumindest für fünfzehn Jahre. Wie es dann weitergeht, kann mir selbst nozamA nicht beantworten.“

„Ah!“ Herr F. klingt fast erleichtert. „Sie fallen damit in Kategorie 809 der Menschen für  Verschwörungstheorie. Das kommt aus Ihren Daten nur sehr schwach hervor. Das passiert manchmal.“ Wie zum Beweis hält er mir sein Tablet mit meinem Foto und einer Art Mindmap vor die Nase.
Kindheit, Vorlieben, Abneigungen, Jobs, Versicherungen, Kredite, Lebensstil, Partner, Suchverlauf, Träume steht da.
„Sehen Sie!“, Herr F. tippt auf Lebensstil und scrollt mehrere Seiten an Datensätzen durch. „Hier. 13 Prozent in der Spalte für 809-Verschwörung, sollte höher sein. Human Error.“ Plötzlich wirkt er traurig. Und ich bin mir nicht sicher, wessen Fehler dafür verantwortlich war – seiner oder meiner.

Herr F. wischt die Daten beiseite und verfällt nun in einen unverbindlichen Plauderton. „Hätten wir uns denken können! Normalerweise hat nozamA ein Früherkennungssystem für Kategorie 809 im Lebensstil und ihr Verhalten in den letzten zwölf Wochen hätte uns bessere Rückschlüsse ermöglichen können.“
„Ich möchte nicht über die Kategorie 809 definiert werden“, sage ich ruhig.

Herr F. wird ganz ernst. „Wir nehmen die Entscheidungsfreiheit unsrer Klientinnen und Klienten als höchstes Gut wahr! Wissen Sie, nozamA ist es schlichtweg egal, welchen Lebensstil Sie persönlich verfolgen. Diese Entscheidung liegt bei Ihnen!“
„So lange ich Daten liefere!“
„Genau!“, ruft der kleine Mann kurzerhand begeistert und nickt heftig. „Ist das nicht großartig? Jeder Mensch darf sich frei entfalten. nozamA sorgt dafür und unterstützt Sie, die besten politischen Parteien, Kredite, Versicherungen und Jobs passend zu Ihrem Lebensstil zu finden!“
„Ja“, stimme ich zu. “Und das möchte ich nicht mehr.“

Nun schweigt Herr F., senkt den Kopf und tippt etwas in sein Tablet. Dann sieht er mich wieder an, dann wieder auf sein Tablet. „Sie sind nun 47 Jahre alt und seit knapp 20 Jahren bei uns Klient. Sie haben Anspruch auf das neue Handy X002 sowie eine vergünstigte Versicherungsprämie und einen Kredit für einen neuen alseT!“
„Nein danke“, sage ich.
Nochmal tippt Herr F. „nozamA bietet Ihnen die unglaubliche Möglichkeit für eine Kur im psychologischen Reha-Zentrum Bad Feldenleon mit Viersterne-Verpflegung für vier Wochen an. nozamA übernimmt selbstverständlich die Kosten.“
Nun weiß ich nicht, ob ich beleidigt oder belustigt sein soll. Denkt nozamA wirklich, ich sei psychisch instabil geworden?
„Nein danke“, versuche ich in neutralem Ton zu sagen. „Geht aus meinen Daten eine psychische Vorerkrankung oder genetische Prädisposition hervor?“
Herr F. tippt auf Versicherungen und dann auf Krankengeschichte. Er schüttelt den Kopf. „Sie haben allerdings eine 28-prozentige Wahrscheinlichkeit, innerhalb der nächsten vier Jahre an schwerem Darmkrebs zu erkranken.“
„28“, sage ich. „Das ist nicht viel.“
„Aber auch nicht wenig“, meint Herr F. und wir schweigen uns einen Moment lang an.

Dann fällt mir ein, dass laut dem Gesetz seit neuestem ein ganz bestimmter Satz zur unwiderruflichen Auflösung des Vertrages mit nozamA führt, wenn er gegenüber einem Human Contact geäußert wird. Ich habe ihn auswendig gelernt, weil ich ihn auf dem Handy nicht aufrufen kann.

Ich räuspere mich und beginne zu sprechen: „Ich, im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, wünsche eine Vertragsauflösung mit nozamA, die einen Verzicht auf jegliche Dienstleistungen des Anbieters zur Folge hat. Da die Löschung bereits gesammelter Daten nicht möglich ist, lege ich fürs Protokoll Einspruch fest und sollte sich in Zukunft die gesetzliche Lage ändern, verlange ich rückwirkend eine endgültige Löschung aller Daten. Die Aufzeichnung sämtlicher zukünftiger Daten untersage ich hiermit auf jeden Fall!“

Herr F.  schlägt die Stirn in Falten und sein Kopf wird unter der Maske hochrot.
„Und ich möchte es gerne schriftlich auf Papier festgehalten haben!“, füge ich rasch hinzu.
nozamA hatte vor Jahren Kampagnen gegen Papier gestartet. Weil die Abholzung des Regenwaldes unserem Klima schadet, ist Papier in Verruf geraten. Auch weil Daten auf Papier für nozamA Mehraufwand bedeuten. Ich möchte das Formular trotzdem. Ich werde es einrahmen und mir übers Bett hängen.
Mein Handy, das ich die ganze Zeit über in der Hand gehalten habe, lege ich auf den Tisch.

Herr F. wirkt resigniert. Seufzend drückt er ein paar Sekunden lang auf dem Tablet herum, und der in der Wand installierte Drucker spuckt ein Formular aus. Herr F. muss eine Weile suchen, bis er den Stempel gefunden hat. Mein Handy gibt er in eine transparente Plastikbox und kennzeichnet diese mit dem digitalen Zeichen für Rohstoffverwertung.

Nun reicht er mir das gestempelte Formular. „Wissen Sie“, sagt er zum Abschied, „meinen Job gibt es nur, weil es das Gesetz so vorsieht. Human Interaction ist ein Bullshit-Job. Mein Vorgesetzter ist ein Algorithmus.“ Er zögert. „Vielleicht besuche ich Sie. Irgendwann.“
„Da würde ich mich freuen“, sage ich und bin schon zur Tür hinaus.

Nene Stark

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 22018

Giuseppe nel cielo

Giuseppe „Sepp“ Forcher moderiert nun „Klingendes Österreich“ im Himmel. Gleich zu Beginn der ersten Sendung spricht er ein dort grassierendes Problem an: „Liabe Leit, manche Engel behaupten, dass die Wolke Nummer sieben weicher ist. Das sind natürlich jene Engel, die auf anderen Wolken wohnen. Ich will nicht von ‚bösen Zungen’ sprechen, weil Engel ja nie böse sind.“ Nun wird Sepp etwas nervös. Oje, oje, ich muss aufpassen, sonst entgleitet mir die Moderation. Und genau jetzt, beim ersten Mal, will ich doch einen guten Eindruck beim Chef machen. Plötzlich hört er eine Stimme in seinem Kopf: „Bravo Giuseppe, bravo, du machst deine Sache sehr gut. Wir sind wirklich froh, dich hier bei uns zu haben.“

Die Erde dazwischen

Die Erde dazwischen

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 22008