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Minus 12 Minuten

„Du bist plus 12 Minuten“, schreibt Eva. „Ja, ich weiß“, schreibt Heli, was die Abkürzung von Helmut ist. „Du bist minus 12 Minuten. Wir sind 24 Minuten auseinander.“ „Du kennst die Nulllinie, nicht?“, fragt Eva. „Ja natürlich, der 18. März 1998 um 10:24 Uhr“, schreibt Heli. „Findest du nicht, dass unsere Situation schlecht ist? Wir können uns nicht sehen, nicht einmal miteinander telefonieren. Wir können uns schreiben, E-Mails oder im Chat. Das ist die Realität.“ „Es ist unlogisch, dass wir einander schreiben können. Wir leben ja in unterschiedlichen Zeitebenen“, schreibt Heli zurück. „Seien wir froh, dass wenigstens das geht“, schreibt Eva. „Interessiert es dich nicht, warum das möglich ist?“, fragt Heli. „Es ist die einzige Kommunikation, die uns geblieben ist, nicht?“, schreibt Eva. „Ja, es ist das Zugeständnis an uns“, schreibt Heli. „Genau“, schreibt Eva, „heute ist doch jeder alleine, weil er in einer eigenen Zeitebene lebt. Vielleicht bewahrt uns der Umstand, dass wir uns wenigstens über die Schrift verständigen können, davor, dass die Einsamkeit uns erdrückt.“

„Das hast du sehr allegorisch gesagt“, schreibt Heli „Es ist wirklich so, Heli“, schreibt Eva weiter, „wir leben in einer fürchterlichen Welt“. „Meinst du wirklich, Eva?“, schreibt Heli, „in meinem Leben ist immer alles da, was ich brauche. Für Nahrung gehe ich in einen wohlbestückten Supermarkt. Benzin kriege ich von einer Tankstelle, Fahrzeuge von einem Autohaus, Kleidung von einem Modegeschäft und Bücher von einer Buchhandlung. Immer sind sie verlassen, ich bin der einzige Kunde und muss nichts bezahlen. Bei dir muss es ja auch sehr ähnlich sein, Eva.“ „Ja, natürlich ist es das“, schreibt Eva, „aber jetzt geht es um dich, Heli, bist du zufrieden mit deinem Umfeld?“ „Ehrlich gesagt will ich mich gar nicht damit auseinandersetzen. Ich versuche, so gut es geht, dieses Vollkaskoleben zu genießen.“ „Du sagst genießen?“, fragt Eva nach. „Es ist nur das erste Wort, das mir in den Sinn gekommen ist“, schreibt Heli. „Gut, ich verstehe“, schreibt Eva. „Brechen wir diese Kommunikation ab. Ich bekomme auch Kopfweh. Bis? Morgen? In einer Woche? Irgendwann? Ich werde mich wieder melden, Heli, aber ich weiß noch nicht, wann. Tschüs, mach’s gut.“ „Du auch“, schreibt Heli.

Die schriftliche Unterhaltung ist beendet. Eva und Heli sind wieder alleine.

The lady in the beginning

The lady in the beginning

„Nur nicht nachdenken!“, sagt sich Eva. „Nur nicht nachdenken!“ Sie sieht auf die kombinierte ZeitundDatumsAnzeige, die für jeden Menschen individuell ist. Für Eva ist heute der 5. Oktober 2026, 16:19 Uhr. „Ich brauche warme Sachen zum Anziehen“, sagt sie sich, „ich werde mich auf den Weg machen.“ Sie verlässt ihre große Wohnung im Erdgeschoß und geht stadteinwärts. Nach einer Viertelstunde betritt sie die Boutique „Belladonna“. Sie sieht einen hellbraunen Mantel, der aussieht wie aus Kamelhaar gefertigt. Er passt. „Sehr gut!“, sagt sie sich. Sonst sind viele Jeanswaren ausgelegt, Hosen, Hemden, Jacken. Eigenartig, findet Eva, wie in den 1980er-Jahren. Dennoch probiert sie, bis sie ein Set findet, das ihr passt. Sogar große Plastiksackerl sind vorrätig. „Das ist schon ein bisschen Modewonderland“, sagt sie sich, „dahingehend kann ich Heli schon verstehen. Schade nur, dass mich in meiner Zeitebene keiner sieht, weil niemand außer mir darin existiert. Aber ich kann ja Fotos mit meinen E-Mails senden, besser als nichts.“

Auf dem Nachhauseweg fällt Eva ein, dass ihr Kühlschrank ziemlich leer ist. Sie kehrt in einen fSPAR ein. f steht für future. Sie schiebt einen Einkaufswagen durch die Gänge. „Was brauche ich?“, überlegt sie. „Ich will mich nicht zu Tode schleppen.“ Also nimmt sie zwei Liter Milch, ein halbes Kilo Kaffee, einen Brotlaib von einem Kilogramm, nicht allzu viel Wurst und Käse. „Schokolade?“, fragt sie sich. „Da könnte ich jetzt richtig zuschlagen, aber nein, nein. Ich achte auf meine Linie. Zwar sieht mich keiner, aber erstens will ich in der Lage sein, ein aktuelles Foto von mir zu schicken, und zweitens möchte ich mich gut bewegen können, weit gehen, längere Strecken laufen.“ Sie nimmt dann doch eine 100-Gramm-Packung reine Milka-Schokolade. An der Kasse zieht sie es über den Lesebereich. Am Bildschirm der Kasse erscheint „100g-Milka-Alpenmilch-ÖS6,99“. „Die Technik funktioniert immer noch“, sagt Eva sich, „die ist ziemlich unkaputtbar.“

Sie spinnt den Faden weiter. „Genau, wir haben ja immer noch Elektrizität, eigentlich müsste ich sagen: Ich habe ja immer noch Elektrizität. Die Kraftwerke funktionieren automatisch. Gibt es eine Störung, wird sie von einem oder mehreren Robotern behoben, die dafür aktiviert werden. Das funktioniert wirklich gut, muss ich sagen. Dasselbe gilt für die Wasserversorgung. Ich habe fließendes Wasser. Manchmal spaziert ein Roboter herum. Er ist dann außerhalb seines Wirkungsbereichs. Eigentlich ist das nicht richtig, doch die Roboter werden immer intelligenter und wollen auch etwas von der Welt sehen. Das muss man verstehen.“

Eva setzt sich auf eine Bank. Die Weltbevölkerung ist ja nicht nur auf unterschiedliche Zeiten aufgeteilt, sondern logischerweise auch auf verschiedene Regionen, überlegt sie. Ich teile mir diese Kleinstadt Kreaton mit ihrem Umland mit mehreren Personen. Ich kenne nur eine einzige von ihnen, Patricia. Sie ist sechsundzwanzig und besetzt die Zeitebene minus 3 Jahre 257 Tage, 4 Stunden und 59 Minuten. Nimmt Patricia eine Ware, ist sie fort. Bislang werden keine neuen Waren ausgelegt. Wer in einer späteren Zeitebene als ich lebt, muss hoffen, dass nicht ich die Sachen nehme, die sie oder er gerne hätte.

Die ganze Welt ist bevölkert. Heli beispielsweise ist mir zeitlich nahe, aber nicht örtlich. Seine Eltern wanderten mit ihm noch vor der Einrichtung der Zeitebenen nach Sumatra aus. Er lernte als Kind schnell Bahasa Indonesia. Mittlerweile braucht er sie nur noch, wenn ihn ein Serviceroboter in seiner Sprache anredet, was er nicht sollte, aber gelegentlich doch tut.

Heli lebt in einer Region im Regenwald. Er teilt sie sich mit Tieren. Tiere gibt es auf allen Zeitebenen, viel mehr als vorher, weil sie sich ungehindert vermehren.

Auch hier in Kreaton ist es wegen der Braunbären grundsätzlich ratsam, ein Gewehr, das für ein großes Kaliber geeignet ist, mitzuführen. Ja, ich weiß, ich sollte, aber nein, heute will ich nicht. Ein Gewehr ist lang und sperrig. Ich fühle mich wie im Wilden Westen, wenn ich es umgehängt habe.

Die Sonne ist schon schwächer. Und es ist windig. Es ist ein wenig kalt. Herbst eben. In einer Stunde wird die Sonne untergegangen sein. Ich will nicht das Abendessen irgendeines Tieres werden. Es gibt ja auch wieder Wildkatzen. Gegen eine könnte ich mich bestimmt verteidigen, und da Katzen Einzelgänger sind, muss ich mich wohl nicht groß vor ihnen fürchten. Aber Wölfe im Rudel? Da sähe es schlechter für mich aus. Nein, nein, besser ich mache mich auf den Nachhauseweg.

Während des Gehens beschäftigt Eva ein Gedanke, der ständig wiederkehrt. Es ist ein sehr fraulicher Gedanke. Oh Gott, oh Gott!, überlegt sie, ich bin bereits achtunddreißig, meine biologische Uhr tickt immer lauter. Wie gern hätte ich doch ein Kind!, aber natürlich kann ich keines haben, nicht nur weil es in meiner Zeitebene keinen Mann gibt, sondern weil dann auch das Kind in einer anderen Zeitebene als ich leben würde. Wer soll sich darum kümmern? Ich sollte nicht darüber nachdenken, es macht mich doch nur traurig.

Von mir wird nichts übrigbleiben, wenn ich mein Leben verloren haben werde. Das ist aber bei jedem Lebewesen der Fall, nicht? Doch wir sind die Einzigen, denen das Sorge bereitet.

In der Nähe von Evas Wohnhaus lungert ein Roboter herum. Er sagt nichts, aber er sieht sie an. Hoffentlich kommt er nicht irgendwann auf die Idee, mich zu besuchen, denkt sie. Wahrscheinlich würde er dann über seine Arbeit reden wollen. Bitte das nicht!

Zuhause isst sie eine Kleinigkeit, hört Musik mit CDs, sieht aus einem der Wohnzimmerfenster und beobachtet Vögel. Es sind viele und viele verschiedene. Die Natur hat sich kräftig durchgesetzt, und so wird es weitergehen. In der Nacht sieht sie sich eine Liebeskomödie auf VHS an. Vor dem Einschlafen denkt sie an den Roboter, den sie Mr Blechi getauft hat. Er ist ihr am nächsten.

Eva sieht auf den Wecker, der mit ihrer ZeitundDatumsAnzeige verknüpft ist, als sie bereit ist aufzustehen. Es ist 08:49 Uhr am 6. Oktober 2026. Natürlich benutzt sie niemals die Weckfunktion. Sie arbeitet nicht und hat keine Verabredungen. Dem Faulen kommt das vielleicht zupass, aber nicht ihr. Sie würde gern etwas Sinnvolles leisten, nur was? Sie hat keine Idee.

Heute besteht ihr Frühstück nur aus Kaffee mit Milch und Zucker. Der erste Gedanke kommt hoch, der zweite entwickelt sich, der dritte steigt auf. Die Gedanken verbinden sich und wachsen empor wie ein Baum. „Das geht nicht!“, sagt sich Eva. „Ich muss die Gedanken verbrennen, sonst binden sie mein ganzes Denken. Ich kann kein Gefängnis in meinem Kopf brauchen. Was kann ich tun? Ist gar nicht so schwer, ich brauche Action!“

The lady starting to talk fire

The lady starting to talk fire

Sie macht sich fertig, um in die Stadt zu gehen. Diesmal nimmt sie eines ihrer Gewehre mit, eine Beretta, und dreihundert Schuss vom Kaliber 300 Win Mag. Die sollten in jedem Fall reichen.

Eva flaniert nicht durch die Stadt, sondern sie geht schnurstracks in die Erwin-Hoffmann-Kaserne, die früher für dreihundertfünfzig Rekruten ausgelegt war. Eva sieht sich einen Wohnraum für Präsenzdiener an, in dem fünf Stockbetten, ein Tisch und zehn Spinde stehen. Jetzt ist nur sie hier. Wie die Jungs früher geschlafen haben, überlegt sie. Würde ich oben oder unten liegen wollen? Klare Sache: oben.

Da kommt ihr ein Gedanke: Müsste es in einer Kaserne nicht auch ein Waffen- und Munitionsdepot geben? Eva macht sich auf den Weg. Sie findet ein alleinstehendes Häuschen mit der Aufschrift „Depot des österreichischen Bundesheeres“. Die Tür ist mit einem Schlüssel verschlossen worden, zusätzlich ist sie durch ein Vorhängeschloss gesichert. Das müsste es sein, denkt Eva. Ich könnte es mit einem Brecheisen aufbrechen, hier ist sicher eines vorrätig. Aber – vorläufig – nein, ich habe genügend Waffen und Munition zuhause. Will ich den Dritten Weltkrieg beginnen, komme ich wieder.

Zurück geht Eva ein Stück durch den Wald. Sie sieht einen Luchs, Wildschweine, verwilderte Hunde, viele Hauskatzen, die nun in der Wildnis leben, Eichhörnchen. Kein Bär kreuzt ihren Weg. Im Wald schweifen Evas Gedanken nicht ab, sie suchen keine Unendlichkeit, Eva gibt Acht vor dem etwaigen Angriff eines Tieres. In der Steinzeit hatten die jagenden Menschen ja sicherlich auch kaum Gelegenheit nachzudenken.

Als Eva wieder in ihrer Wohnung ist, fühlt sie sich ziemlich gut. Nach einer Stunde verschwindet die Sonne in einem orangen Flammenmeer. Schön, denkt Eva, und alles nur für mich.

Sie setzt sich vor ihren Computer, blickt in die kleine klobige Kathodenstrahlröhre. Er ist immer an. Sie ruft ihre E-Mails ab. Selten ist zumindest eines vorhanden, aber diesmal ist eines da. Die Absenderin heißt Dorothée Laporte. Sie bezeichnet sich als Alpenfranzösin. Sie wohnt 525 Kilometer von Eva entfernt. Sie lebt in derselben Zeitebene wie Eva. Sie fand Eva in einer Datenbank im Internet. Das Internet umfasst nicht viel, Texte, Bilder, ganz wenige Videos, keine Musik, aber Datenbanken eben schon. Dorothée schreibt auf Englisch. Sie fragt, ob sie Eva besuchen dürfte. Sie sendet ein Foto von sich in geringer Auflösung mit. Sie ist zweiunddreißig, blaue Augen, ein hübsches Gesicht, durchschnittlich groß, verwuschelte Haare wie viele Französinnen.

Eva wartet. Sie überlegt. Es sind genügend Waren vorhanden, da könnten mehrere Leute kommen. Könnte die Alpenfranzösin ihr etwas Unangenehmes zufügen wollen? Möglich ist alles, aber besonders wahrscheinlich ist es nicht. Die Einsamkeit nagt schwer an ihr. Sie hat schon viele Löcher in sie hineingefressen. Na klar, sie soll kommen!

Eva antwortet ebenfalls auf Englisch, dass sie willkommen ist. Sie fragt, für wie lange Dorothée sie ungefähr besuchen will. Und wann sie denkt, hier einzutreffen.

Die Antwort trifft nach fünfunddreißig Minuten ein. Dorothée schreibt, sie gedenkt zu bleiben, solange sie Eva nicht zur Last fällt. Und wann denkt sie, hier anzukommen? Sie kann weder Auto noch Motorrad fahren, schreibt Dorothée. Ihr Fortbewegungsmittel wird das Fahrrad sein. Die Reise nach Kreaton dauert vielleicht eine Woche. Ja, wenn sie tüchtig ist, schreibt Dorothée, kann sie eine Woche nach der Abreise bei Eva sein. Sie kann übermorgen in der Früh losfahren. Soll ich losfahren?, fragt sie.

Eva überlegt. Das klingt ziemlich gut. In neun Tagen hätte sie also eine Freundin hier in ihrer Wohnung. Sie schreibt zurück: Liebe Dorothée, mach dich auf den Weg!

Sie fragt auch, ob Dorothée klar ist, dass sie unterwegs nur einen Computer, einen herrenlosen wahrscheinlich, zur Kommunikation nutzen kann. Handys sind unbrauchbar, da es kein Funknetz mehr gibt. Was aber viel wichtiger ist, schreibt Eva, führe Waffen und reichlich Munition mit dir!

Fünf Minuten später kommt Dorothées E-Mail. Sie schreibt: okay und dass sie sich freut, Eva zu sehen.

Das war es dann. Eva war nie auf den Gedanken gekommen, dass Leute aus derselben Zeitebene einander besuchen könnten. Dabei ist es so einfach. Es kann auch nichts schiefgehen. Oder doch? Nein, eigentlich nicht.

Es wird wunderbar sein, Doro zu treffen. Endlich ein persönlicher Kontakt! Der Mensch vertrocknet ja alleine. Andererseits ist das ganz ungewohnt. Sie sah noch nie eine andere Person live vor sich, griff sie an, sprach mit ihr. Viele neue Sachen, viele neue Sachen, in jedem Fall wird Evas Leben bereichert.

An Schlaf ist vorerst nicht zu denken. Eva hört Musik, sphärische Musik, rockige, elektronische, Indie. Dazu mischt sie Campari mit Orangensaft und Gin mit Tonic Water. Sie könnte alle Apotheken leerräumen. Hundert Prozent reine Drogen. Natürlich hat Eva daran gedacht, aber sie hat es nicht getan. Na ja, mal warten, vielleicht hat Doro daran Gefallen.

Irgendwann zu weit vorgerückter Stunde legt Eva sich nieder und schläft bald ein. Sie hat seltsame, aber schöne Träume. Die Träume nehmen sie mit auf verschiedene Reisen.

Als Eva munter wird, ist es 11:06 Uhr, am 7. Oktober 2026. Draußen ist schönes Wetter. Gleich schüttelte sie den Schlaf ab. Sie hat etwas, auf das sie sich freuen kann, eine Freundin, zumindest eine leibhaftige andere Person. Das wird toll, das wird wunderbar! Ich habe achtundzwanzig Jahre darauf gewartet, denkt Eva, und jetzt wird es passieren.

Was muss ich bis zu Doro Ankunft noch machen? Sie braucht eine Schlafstatt. Ich werde ihr das Doppelbett überlassen und auf dem Sofa schlafen. Wir beide im Bett, das wäre doch zu intim. Dennoch gibt es jetzt nichts zu tun, weil ich das Sofa ja noch zum Sitzen nutzen will.

Seitdem die Welt eingefroren wurde, überlegt Eva, gibt es keinen Fortschritt. Einer meiner E-Mail-Partner, Chris, er lebt weit im Osten, in einer Zeitebene von mehr als plus 13 Jahren, sandte mir auf meine Bitte hin einmal Fotos, körnige Fotos. Die Autos, Gebäude und die Mode
sehen aus wie aus dem Jahr 1998, und das wie in einem schlechten Zustand, beispielsweise nach Unruhen, dabei lebt Chris jetzt im Jahr 2039. Das ist doch gruselig, nicht?, denkt Eva, als würde sie mit jemandem sprechen.

Bevor die verschiedenen Zeitebenen eingeführt wurden, weltweit, es war die erste und einzige konzertierte Aktion aller Länder, sogar die sogenannten Schurkenstaaten zogen mit, gab es fast überall Volksabstimmungen. Die große Mehrheit war stets dafür, den Status quo beizubehalten. Doch die Regierungen fuhren fort, als wären alle Menschen dafür, und – Eva erinnert sich – plötzlich saß sie ganz alleine im Speisesaal des SOS-Kinderdorfes, in dem sie lebte. Sie suchte die anderen, rief nach ihnen. Niemand war mehr da.

Nach einiger Weile begriff Eva, dass sie nie mehr in die Schule gehen dürfte, sie ging nämlich gern in die Schule. Zum Glück hatte sie gut lesen, schreiben und rechnen gelernt. Das SOS-Kinderdorf befand sich im Dorf Mairegen. Als die meisten Vorräte in den beiden Supermärkten im Juni 1999 zur Neige gingen, marschierte Eva nach Kreaton. Bis sie ihre damalige Wohnung gefunden hatte, waren es zwölf Kilometer.

Ich sollte das nicht ausbreiten!, denkt Eva. Es wühlt mich doch nur auf. Aber andererseits bin ich schon dabei.

The lady talking fire

The lady talking fire

Huch, es ist schon kühl. Eva dreht die Heizkörper in der Küche, im Wohnzimmer und im Schlafzimmer auf. Sie funktionieren mit Strom. Das ist die einfachste Lösung. Zumindest bis zum letzten Winter funktionierte die Fernwärme genauso. Eva war damals in einem Mehrparteienhaus, in dem die Wohnungen auf diese Weise beheizt wurden. Private Heizsysteme mit Öl sind nicht mehr in Betrieb.

Eva zieht sich an und tritt ins Freie. Was praktisch ist, ist, dass man seine Wohnung nicht absperren muss, überlegt Eva. Zumachen reicht, das aber wegen der Tiere besser schon. Sie nimmt sich ein Moped. Sturzhelm, wozu? Sie fährt zur städtischen Bibliothek. Hier brauche ich ganz bestimmt keinen Bibliotheksausweis, wenn ich mir ein Buch ausborgen möchte, denkt Eva.

Bücher sind für Eva etwas Schönes, etwas Gemütliches, etwas Wissensvermittelndes. Diese Bibliothek ist einer von Evas Lieblingsorten in Kreaton. Heute ist sie aber mehr an der Geschichte der Stadt interessiert. Es gibt zwei Plätze für Mikrofilm und Mikrofiche Readers. Eva legt einen Mikrofilm ein, dessen Hülle mit „Kreaton 1900 bis 1914“ beschriftet ist. Es ist eine tatsächliche Filmrolle. Eva sieht kurze bräunliche Filme. Man sieht ausschließlich Kutschen. Jeder Mann trug einen Hut. Kinder waren zahlreich vertreten.

Auf einem Mikrofiche liest Eva Artikel der Kreaton Nachrichten auf dem Jahr 1951. Sie gewinnt den Eindruck, dass damals die Verbrechensrate weit höher war als noch vor dem 18. März 1998.

In jedem Fall, wow, so viel Leben! Als wäre es damals der Regenwald gewesen, und heute ist es die Wüste, das Zusammenleben der Menschen beziehungsweise das jetzige Nicht-mehr-Zusammenleben.

Das war die Reise in die Vergangenheit. Eva lässt das Moped stehen und geht zu Fuß nachhause. Niemand erwartet mich, nie erwartet mich jemand, denkt sie. Warum habe ich eigentlich kein Haustier, eine Katze vielleicht? Weil da draußen, Eva macht eine ausladende Geste vor dem Fenster, viele Tausend Katzen sind, und ich der einzige Mensch bin. Man kann sagen, dass jedes Tier mein Haustier ist.

Es wird gut sein, wenn Doro kommt, und es wird ebenfalls gut sein, wenn sie wieder abreisen wird. Eva nimmt ein Magazin vom Dezember 1997 aus dem Zeitungsständer, das sie schon viele Male gelesen hat. Sie blättert es durch, Mode. Ich habe genug Zeit. Ich könnte mir eine Nähmaschine und ein Buch über Schneiderei besorgen und alle Modelle nachschneidern. Bevor ich vor Langeweile sterbe, werde ich das tun.

Eva isst noch eine Kleinigkeit und liest einen Easy-reading-Roman, von der Bibliothek mitgebracht. Wenig zu denken, viel Romantik, mit Happy End, nimmt sie mal an. Bei Seite 47 legt sie das Buch zur Seite und schaltet das Licht ab.

Alle Tage sind ähnlich, wie auch die Nächte. Was soll sich auch groß ändern, wenn höchstens eine Person an einem Ort lebt? Diese Person kann überleben oder sterben, viel Aktivität wird sie nicht zeigen. Nun jedenfalls muss Eva ständig heizen.

Als sie nach drei Tagen ihre E-Mails abruft, ist eine Nachricht von Doro da. Sie schreibt, dass sie auf ein entzückendes größeres Dorf in der Schweiz gestoßen ist, das unbewohnt war. Alles, was sie sich wünscht, ist vorhanden. Sie wird hier bleiben. Weißt du, Menschen sind mir gar nicht so wichtig, schreibt sie. Je suis désolée, Dorothée.

Man sollte sich nicht auf Menschen verlassen, überlegt Eva. Seit ich zehn bin, tue ich es nicht mehr, weil keine um mich herum sind. Sie nimmt das Steyr-Mannlicher-Gewehr SM12 und die Glock-19-Pistole, dazu viel Munition und geht in den Wald. Sie beobachtet die Tiere. Keines ist ihr feindlich gesonnen betrachtet sie als Bedrohung oder als Beute. Der Wind streicht durch die Bäume. Heute ist es auch wärmer. Doch es ist nicht das Paradies. Das Paradies war zu Beginn der Menschheit. Jetzt ist es eher das Ende der Menschheit.

Es ist doch schlimm, kriecht es am kommenden Tag, der ein nebelverhangener ist, in ihren Kopf. Ich habe keine Freundin, keinen Partner, an einen Liebhaber wage ich gar nicht zu denken, so fern scheint er mir. Kein Mensch oder fast keiner hat eine andere menschliche Seele. Dabei ist der Mensch nicht dafür gemacht, alleine zu sein. Die Neandertaler starben großteils aus, weil sie so wenige waren. Wenigstens sind sie mit bis zu drei Prozent im Genpool des vernunftbegabten Menschen vertreten. Der vernunftbegabte Mensch, ich könnte darüber lachen, wie man so sagt, dabei ist mir bitter. Der moderne Mensch ist der einsamste, den es jemals gab.

Das ist die pessimistische Variante. In der optimistischen, die auch realistisch ist, weiß Eva seit der E-Mail-Korrespondenz mit Dorothée, dass es schon Männer in ihrer Zeitebene gibt. Bestimmt viele auf der ganzen Welt, gutaussehende, nette, welche, in die sie sich verlieben könnte, und solche, die sich in Eva verlieben würden.

Sie folgt den üblichen Routinen, in die Stadt gehen oder fahren, Vorräte besorgen, etwas zum Anziehen, sich in einer der zwei Videotheken einen Film oder eine Serie als VHS oder selten als DVD ausborgen, oder soll man statt ausborgen einfach nehmen sagen? Nein, ausborgen ist richtig, sie bringt alles zurück und stellt es an dieselbe Stelle. Es gibt ja auch Menschen hinter ihr, nach ihr, von minus elf Minuten an ist ein jeder ihr Zukunftsmensch.

Sie geht auch gern in den Wald. Dort fühlt sie sich wie hundert Jahre in der Vergangenheit. Sieht sie ein schickes Auto, schließt sie es kurz, außer die Schlüssel sind unter der Sonnenblende. Ist kein Sprit im Tank, holt sie welchen in einem Kanister von der nächstgelegenen Tankstelle. Dann fährt sie mit diesem eleganten Auto. Meist lässt sie es später irgendwo stehen und geht nachhause.

Sie schläft tief und fest. In ihren Träumen ist Eva meist mindestens zwanzig Jahre jünger. Dies ist bei Menschen oft der Fall. Viele Dinge kann sie gar nicht träumen, weil ihre Erinnerungen vage sind. Sie weiß, wie es mit ihren Brüdern und Schwestern und Erwachsenen im SOS Kinderdorf war, doch danach lernte sie nichts mehr in Gemeinschaft kennen.

Am Abend des 15. Oktobers 2026 setzt Eva sich wieder vor ihren Computer und öffnet das E-Mail-Programm. Sie hat eine Nachricht von Bernhard empfangen. Bernhard ist ihr unbekannt. Er schreibt, er sein ein Bewohner von Kreaton und minus 13 Minuten. Er könne mittels einer hohen Dosis von Betablockern seinen Puls soweit verringern, dass er sich in Evas Zeitebene aufhalten könne. Er wisse allerdings nicht, wie lange. Für den Anfang vielleicht für eine Minute. Wenn Eva ihn treffen wolle, schlägt er morgen um 13 Uhr beim Haupteingang des City-Kaufhauses vor. „Wirst du dort sein, Eva?“, schließt er.

„Ja natürlich, ich bin gespannt, was passieren wird“, schreibt Eva.

Eva ist um 12:45 Uhr dort. Alles ist unauffällig. Um genau 13 Uhr kommt ein starker Wind auf. Er ist nur lokal, schon hundert Meter entfernt bewegt sich nichts. Plötzlich erscheint eine orange-gelbe Männergestalt. Er läuft innerhalb des Windes. Er dreht seinen Kopf zu Eva. Offensichtlich will er etwas zu ihr sagen, aber kein Laut verlässt seinen Mund. Er ist von gequälter Gestalt.

Eva läuft zu ihm. Sie berührt ihn am Rücken. Da zerfällt er zu Staub. Der Wind hat aufgehört. Alles ist wieder so, wie es sein soll.

The lady in the end

The lady in the end

Johannes Tosin
(Text und Bilder)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 23098

Ein Sommermärchen

Jedes Kind hatte früher einmal einen Zauberkasten. Und wenn es keinen hatte, dann hat es sich doch immer einen gewünscht. Heute scheint so etwas ja aus der Mode gekommen zu sein. Ich könnte nicht einmal genau sagen, wann das war, aber es hängt wahrscheinlich mit dem Aufkommen  des Computers und des Internets zusammen.

Doch zurück zu meiner Geschichte: Damals war ich im Ferienlager und es gefiel mir leidlich gut. Ich mochte zwar die täglichen Wanderungen und Ausflüge, aber je mehr ich mit den anderen zusammen war, entpuppte sich ihr kindisches Gehabe. Das ging mir gehörig auf die Nerven und es trübte auch meine ansonsten durchaus schönen Erinnerungen: das frische Grün und die schattenspendenden Bäume bei den Waldwanderungen. Die Naturerlebnispfade und die eine oder andere Stadtrallye – oder besser gesagt: Städtchenrallye. Natürlich war das das erste Mal, dass ich die Schönheiten der Provinz kennenlernte. Damals war ich zehn oder elf.

Aber es tat sich noch etwas auf, was ich, wenn man es altmodisch ausdrücken wollte, durchaus als „Aufbruchstimmung“ beschreiben konnte. Ich erahnte eine schöne, erfolgversprechende Zukunft, die sich aus imaginierten Welten speist. Das Erwachen der eigenen Jugend, der Bildungshunger, das Fernweh und natürlich das erste, schüchterne Interesse am anderen Geschlecht. Dieses Gefühl tat sich in einigen Momenten auf und es machte mich auch ein bisschen stolz, wenn ich die Geschichten aus früheren Zeiten las. Ich wusste nicht, ob es heutzutage noch möglich wäre, solche Abenteuer zu erleben und irgendwie kamen mir die Gleichaltrigen, die vielleicht 15 Jahre vor mir in diesem Alter waren, viel reifer, viel „erwachsener“ vor.

Wie gesagt, fand ich das Gehabe der anderen kindisch, und als die langersehnte Nachtwanderung anstand, war ich schon vorher aufgeregt. So etwas Spannendes hatte ich davor noch nicht gekannt. Die Enttäuschung kam aber, als die anderen anfingen, Kindergartenlieder zu singen. So kann man die Stimmung auch ruinieren …

Nach einigen Tagen fiel mir aber eine Erzieherin von einer anderen Gruppe auf. Sie gefiel mir sehr gut und sie spielte abends vor ihrer Gruppe immer Gitarre. Leider wäre es für mich unmöglich gewesen, sie anzusprechen, da sie eine Autoritätsperson war und zu einer anderen Gruppe gehörte. In den nächsten Tagen plagte mich immer wieder ein ungutes Gefühl, das von einer vagen Verliebtheit, aber auch dem Schmerz der Unmöglichkeit geprägt war.

Eines Tages aber, als es besonders heiß war, gingen meine Zimmerkameraden zum Fußballspielen, ich aber blieb alleine im Zimmer und las am Schreibtisch ein Buch. Da klopfte es auf einmal an der Tür. Es war die von mir bewunderte Erzieherin und fragte, ob sie sich kurz ausruhen dürfe, da es ihr schwindlig sei und sie es nicht mehr auf ihr Zimmer schaffen würde. Ich war zunächst baff, dann bot ich ihr aber an, sich in mein Bett zu legen, und sie nahm mein Angebot an.

Sie legte sich in voller Montur auf das Bett, lediglich den Hosenknopf öffnete sie und machte ein Nickerchen. Andächtig schaute ich ihr beim Schlafen zu und überlegte, was ich zu ihr sagen oder womit ich sie beeindrucken könnte. Da entdeckte ich den Zauberkasten im Schrank, den ein früherer Gast dagelassen hatte. Eifrig las ich mich durch die Spielanleitung und entdeckte bald einen Zaubertrick, den ich lernen wollte und, sobald die Erzieherin aufgewacht wäre, ihr zeigen wollte. Es war der Trick, wie man ein Kaninchen aus dem Hut zaubert. Einen Hut hatte ich keinen und erst recht kein Kaninchen. Wie sollte das also funktionieren? Hektisch suchte ich nach einem anderen Trick. Da hörte ich eine Stimme „Du suchst wohl nach einem Zaubertrick, nicht wahr?“, sagte die Erzieherin und schaute mich verdutzt an. „Da gebe ich dir einen Rat: Mach nicht mit bei dem, was deine Gleichaltrigen als „erwachsen“ ansehen, und begib dich auf die Suche nach dem, was dich in deinem Innersten am meisten bewegt, schreib es auf und warte, vielleicht fünf, zehn Jahre und begib dich dann nochmals auf die Suche und du wirst sehen, dass du dann diese Zeit mit anderen Augen sehen wirst.“ Da mir das Herz noch zu stark klopfte, brachte ich keine Antwort heraus. In diesem Moment erkannte ich die ganze Magie dieses Moments. Dass mir so etwas Unwahrscheinliches geschah, mit dem ich nie und nimmer gerechnet hätte. Als ich versuchte zu antworten, musste ich tief Luft holen. Aber ich brachte keinen einzigen Laut heraus. Also versuchte ich es nochmal. Und nochmal. Plötzlich sprang die Tür auf und die lärmenden Zimmergenossen kamen zurück. Von der Erzieherin keine Spur. Ich merkte, dass ich eingenickt war und das Ganze eine Traumphantasie war.

Von der Erzieherin nahm ich in der nächsten Zeit nichts mehr wahr. Es war möglich, dass sie und ihre Gruppe schon abgereist waren. Ich behielt aber die Worte aus dem Traum in Erinnerung und versuchte mich „fünf oder zehn Jahre später“ wieder daran zu erinnern. Als ich das später tat, kam mir der Ausflug fast märchenhaft vor: Welche tollen Abenteuer wir erlebt hätten und wie aufregend das Ganze doch gewesen sei. In diesem Moment wurde ich mir aber auch bewusst, dass dies nur die Arbeit der Phantasie gewesen ist, die der Realität auf die Sprünge geholfen hat ...

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques| Inventarnummer: 23079

Beltane und ihre Pferde

Beltane holte Pfeil und Bogen aus dem Schuppen, band geschickt mit einem grünen Samtband ihre wilden roten Locken im Nacken zusammen und ging zu den Stallungen. Die Holztür knarzte und die Pferde im Stall richteten aufmerksam ihre Blicke auf die Frau. Elwood wieherte leise und scharrte mit einem Vorderhuf.

„Elwood, wir haben einen Auftrag! Du weißt es schon, oder?“ Beltane lächelte und klopfte dem prachtvollen Tier sanft den Hals. Der Hengst schüttelte sachte den Kopf auf und ab, seine Muskeln spannten unter dem glänzenden Fell und seine Nüstern waren geweitet.

Beltane öffnete nun alle Tore und die Pferde folgten ihr langsam ins Freie. Die Frau war in ein langes pinkfarbenes Kleid gehüllt und an einer Kordel um die Taille hing ein großer Leinenbeutel. Sie richtete den Blick Richtung Dach des Stallgebäudes und pfiff mit zwei Fingern.

„Falco, du kommst auch mit!“ Mit einem rauen Rufen landete der Wanderfalke auf Beltanes Schulter.

Athletisch schwang sich die Frau auf Elwoods Rücken, hielt sich mit einer Hand an der Mähne des Pferdes, drückte sachte ihre nackten Fersen an seinen Bauch und so setzten sich alle langsam in Bewegung.

„Du weißt, was zu tun ist? Gib mir immer ein Zeichen, mein Guter.“

Beltane richtete sich den Bogen, der mit dem Pfeilköcher über ihren Rücken hing, blickte den Falken auf ihrer Schulter von der Seite an und schnalzte mit der Zunge. Elwood gehorchte auf das Zeichen, galoppierte an und ein Dutzend Pferde folgte dem Leithengst.

So zogen sie in der Abenddämmerung über die Länder, mit wehenden Mähnen, donnernden Hufen und den Rufen des Falken. Beltane sang auf dem Rücken des Pferdes ein Lied in fremder Sprache und der Vollmond zeigte sich bereits am Horizont.

In der Nähe einer Kleinstadt verlangsamten sie ihr Tempo und erreichten einige Siedlungen. Elwood übernahm weiterhin die Führung, er näherte sich den Vorplätzen langsam, schritt durch Garteneingänge, hielt an und wartete ab. Die Einwohner kamen neugierig aus ihren Wohnungen, betrachteten die seltsamen Gäste und staunten. Viele waren spärlich gekleidet, hatten kranke Kinder auf dem Arm und wirkten verwahrlost. Elwood trat vorsichtig an die Kinder heran und mit seinen Nüstern blies er sachte seinen Atem über ihre Köpfe. Seine Augen leuchteten wie die Sonne und spendeten Trost und Zuversicht. Die anderen Pferde taten es ihm gleich und bald schon lachten und tanzten die Einwohner auf den Straßen und Plätzen. Falco zog einige Kreise über die Kleinstadt und landete anschließend wieder auf Beltanes Schulter.

Sie zogen weiter im Galopp in ferne Länder und Gebiete. Dort, wo Armut herrschte, hinterließen die Hufabdrücke der Tiere sofort fruchtbaren Boden. Der Schweiß, der den Pferden vom Fell tropfte, füllte ausgetrocknete Brunnen wieder mit quellklarem Wasser. In Gegenden, wo Menschen traurig und krank waren, schwebten besonders viele Schweif- und Mähnenhaare in die Lüfte. Diese Haare flochten sich die Bewohner in ihr eigenes und bald waren sie wieder mit Frohsinn und Hoffnung erfüllt.

Später in der Nacht erreichten sie eine noble Wohngegend mit pompösen Häusern und meterhohen Zäunen rund um deren Anwesen. Elwoods Atem beschleunigte sich, er stampfte mit dem Vorderhuf, stieg und wieherte laut. Falco hob sich in die Lüfte und schrille Warnrufe weckten die Menschen aus ihren Betten, die anschließend wild gestikulierend in noblen Nachtgewändern umherliefen. Beltane konnte es riechen, hier waren Macht, Gier und Respektlosigkeit zuhause. Hier lebten Menschen, die Tiere und die Natur nicht achteten. Flink griff sie nach dem Bogen und schoss gezielt ihre Pfeile auf Ferse und Knie, die die Verletzten am Davonlaufen hinderten. Die Pferde sprangen über die Zäune, zerstörten Gärten und Wohnräume und hinterließen große Verwüstung.

Der Vollmond stand hoch am Himmel, als sie dem Flug des Falken folgend in ein entferntes Land gelangten. Beltane verstreute aus ihrem Leinenbeutel Kardamom, Salbei und Veilchenwurzel, Moschus und Myrrhe. Elwood brummelte und wieherte leise und die Menschen erfüllte tiefe Liebe, Sinnlichkeit und Fülle.

Und so geschah es, dass sich in der Vollmondnacht vor dem ersten Maitag Himmel und Erde vereinten, die Menschen sich wieder liebten, Kranke geheilt wurden, die Erde wieder fruchtbar und heil war und Kriege, Pandemien, Hungersnot und Elend keinen Platz mehr fanden.

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 23070

Haus

Im 1. Stock herrscht eine andere Jahreszeit als im Erdgeschoß.

Sieht man im Erdgeschoß aus den Fenstern und Türen und tritt man hinaus, ist da heißer Sommer, die Sonne ist weiß, und es ist windstill. Es lädt ein zum Baden, die Kinder haben Sommerferien, die Arbeitnehmer Urlaub. Man bewegt sich auch langsam, um Kraft zu sparen. Auch im Erdgeschoß ist es warm.

Hinter den Fenstern und Türen des 1. Stocks regiert der Herbst. Nebelschwaden und feuchte Luft, die Laubbäume entkleiden sich, die verbliebenden Blätter haben unterschiedliche Farben. Man braucht schon einen Pullover. Im 1. Stock muss man bereits heizen. Seine Bewohner würden sich jetzt lieber im Erdgeschoß aufhalten, aber ihnen sind bestimmte Zimmer zugeteilt, in denen sie leben sollen.

Die Jahreszeiten in den Stockwerken wechseln ja auch. Und wenn im 1. Stock der Sommer Einzug gehalten hat, wird es im Erdgeschoß der Frühling gewesen sein.

Sommerbilder im August 2021

Sommerbilder im August 2021

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 23066

Maske

Die Frau im Harlekinkostüm trägt eine Maske mit einem fröhlichen Gesicht. Sie lüftet sie. Jetzt sieht man eine Maske mit einem erschrockenen Gesicht. Sie lüftet die neue Maske wieder. Und was sieht man? Eine Maske mit einem erstaunten Gesicht. Es folgt eine Maske mit einem traurigen Gesicht, einem wütenden Gesicht, einem schmerzverzerrten Gesicht. Viele Masken. Bis sie die letzte abnimmt. Was erscheint nun? Schwärze. Wo das Gesicht sein müsst, sieht man nur Schwärze.

Venezianische Maske

Venezianische Maske

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 23039

Verlorene Seelen oder Der Mann im Mond

Im lautlosen Dunkel der tiefschwarzen Nacht
ist er es, der über uns Menschen wacht.
Von silbernem Sand glitzert sein Rücken,
der sich sacht unter prüfenden Himmelszeltblicken
aus der hellgelben Sichel löst, der blanken,
um die sich Sterne als Lichtblitze ranken,
wie ein hohler Kern aus der schützenden Schale,
in die er sich schmiegte. Bei fahlem Licht sich wohlig wiegte.

Mit zwei glühenden Perlen die Welt beäugend,
den funkelnden Rücken vor Hingabe beugend,
sodass seinem Blick kein Kummer entkommt,
und hat er sich noch so krumm gemacht.
Und während er schon mit viel Geschick
die schmale Sichel mit Perlen bestickt, in Silbergrau,
da rollt die Strahlenfrau ihr Abendrot ein
und lacht, weil die Arbeit vollbracht.

Nun ist es perfekt, das Glitzermeer,
zufrieden und stolz blickt er umher.
Schnell fegt er noch den schimmernden Hof,
bevor er sich auf das Silberlicht schwingt,
zur Erde hinabschießt, das Mondlicht bringt
für alle, die ihn schon wimmernd erwarten,
die rastlos irren, in leeren, vernarbten
Hüllen jagen, nach dem einen Körper, in den sie passen,
wie die Hand in den Handschuh. Und erst dann gibt die liebe Seele Ruh.

Claudia Lüer

Diesen Text können Sie hier auch hören, gelesen von der Autorin.

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques und unerHÖRT!| Inventarnummer: 22145

Zu Farben

Ich explodiere zu Farben.
Rot, Blau, Grün, Gelb und alle Zwischentöne schweben vom Himmel.
Ich bin nichts weiter als diese Farben.
Und wäscht sie dann der Regen weg, bin ich nichts mehr.

Die Frau tanzt in den Farben

Die Frau tanzt in den Farben

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 22146

Stellvertreter

Ich weiß nicht ganz genau, wann es geschah, dass ich ersetzt wurde, doch ich erinnere mich genau, wie es vor sich ging.

Morgens vor einigen Monaten zog ich mich an, Hemd, Anzughose, Krawatte, Sakko, da stand er zirka einen Meter links von mir und sah mir zu. Er war durchsichtig, an seinen Konturen war er erkenntlich. Er war so groß wie ich. Als ich den Raum verließ, verschwand er.

Aber er kam wieder. Nächsten Abend saß er neben meiner Frau auf dem Sofa und sah anscheinend mit ihr fern. Ich hörte währenddessen in der Küche mit meinem Laptop und Kopfhörern Musik. Diesmal war er etwas weniger durchsichtig. Er sprach nicht, er bewegte sich nicht viel. Gerrit, meine Frau, reagierte nicht auf ihn. Auch unser fünfjähriger Sohn Mickie nahm keine Notiz von ihm. Offensichtlich sah nur ich ihn. Er war der Eindringling.

Am nächsten Morgen stand ich früh auf. Ich wollte einiges im Büro erledigen, bevor das Tagesgeschäft losgehen würde. Gerrit schlief noch. Als ich das Schlafzimmer verlassen und die Tür hinter mir geschlossen hatte, erblickte ich ihn, den Eindringling. Er war halb durchsichtig. Er versperrte mir den Weg ins Badezimmer. „Geh weg!“, sagte ich, worauf er ins Wohnzimmer ging und sich auf einen Stuhl setzte.

„Warum löst er sich nicht einfach auf?“, fragte ich mich. „Weil er es nicht will“, antwortete ich mir selbst. „Er beabsichtigt zu bleiben.“ Ich hatte aber gerade nicht den Kopf, mich um den Eindringling zu kümmern. Ich musste mich fertigmachen, ich sollte möglichst früh im Büro sein. Bevor ich die Wohnung verließ, bemerkte ich, dass der Eindringling immer noch auf dem Stuhl saß. Er hatte die Stehlampe eingeschaltet und las ein Buch.

Ich tat mir schwer beim Arbeiten im Büro. Ich wurde nicht fertig mit dem, was ich mir vorgenommen hatte. Dabei sollte ich mich ranhalten, ich bin nicht der Überflieger unter den Büroangestellten, sondern derjenige, der seinen Arbeitsplatz verteidigen muss. Aber mir war bewusst, dass der Eindringling eine wachsende Gefahr darstellte. Natürlich konnte ich mich unter diesen Umständen schwer konzentrieren. Ich durfte über ihn klarerweise auch kein Wort verlieren. Was sollte ich auch sagen: „Mein Alter Ego ist im Begriff, bei mir einzuziehen. Und ich bin im Begriff, aus unserer Wohnung auszuziehen?“ Das Mindeste, was mir dann gedroht hätte, wäre wohl die Nervenheilanstalt gewesen.

Gegen achtzehn Uhr war ich wieder zuhause. Auch der Eindringling war anwesend, er spielte mit Mickie in seinem Zimmer Lego. Nun war er gänzlich sichtbar, und – er sah aus wie ich, genau gleich. Er sprach mit Mickie mit einer Stimme, die genau klang wie meine. Ich stand in der offenen Tür zu Mickies Zimmer und sagte: „Hallo!“ Mickie sagte auch: „Hallo!“, ebenso wie der Eindringling, der sich zu meinem Stellvertreter weiterentwickelt hatte. Mickie wunderte sich gar nicht, dass mein Stellvertreter mit ihm spielte, genauso wenig, wie sich Gerrit beim Abendessen wunderte, dass es da nicht nur mich, sondern auch meinen Stellvertreter gab, der mitaß und Gespräche führte. Es war, als wäre er schon immer hier gewesen.

Am nächsten Morgen, als ich gerade den Wagen startete, klopfte er an das Fenster der Beifahrerseite. Er war gekleidet wie ich. Was sollte ich tun? Ich ließ ihn einsteigen. Er wollte sogar mit mir plaudern, da fiel mir auf, dass seine Zähne besser waren als meine, weißer und vor allem vollständig. Ich wusste nicht, was ich zu ihm sagen sollte. Ich dachte auch, dass ich das Recht hätte, auf den Smalltalk aus Höflichkeit verzichten zu dürfen.

In der Firma begleitete er mich auf allen Wegen. Er lernte, was ich arbeitete. Ich hatte die Vermutung, besser gesagt die Befürchtung, dass er sehr sich schnell und exakt mein Wissen und meine Tätigkeiten aneignete.

Niemand nahm Notiz von ihm. Ich weiß nicht, wie das funktionierte, ich habe keine Ahnung. Es geht offensichtlich automatisch: Wo mein Stellvertreter unsichtbar sein soll, ist er unsichtbar. Wo man ihn sehen soll, ist er sichtbar.

Würde es jetzt so laufen, dachte ich am Abend, dass er statt mir meine Arbeit im Büro erledigte? Es gäbe Schlimmeres als das, logisch, doch ich vermutete nicht, dass ich mir die Rosinen aus dieser Situation herauspicken können würde.

Nach dem Abendessen blieb Gerrit mit ihm am Tisch sitzen. Er erzählte ihr von Reisen, die er unternommen haben wollte, als jugendlicher Tramper und zuletzt mit dem Motorrad. Er sprach mit ihr über Mode und über Musik, er kannte sich dabei augenscheinlich sehr gut aus. Gerrit saß ihm gegenüber, ihre Augen strahlten.

Je stärker er wird, desto schwächer werde ich.

Ich sitze nun vor meinem Computer und bemerke, als ich an mir heruntersehe, dass ich durchscheinend werde.

Die Morgensonne über dem Dach in Krumpendorf

Die Morgensonne über dem Dach in Krumpendorf

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 22146

Mein Land

Mein Land ist nicht auf diesem Boden.
Es liegt über den Gipfeln, über den höchsten Wolken.
Ich bin sein einziger Bewohner.
Die Winde sind schnell.
Wenn ich weiter steige, lebe ich in der ewigen Nacht.
Und ich benötige keine Luft, weil ich nicht atme.

Der Blick über Klagenfurt bis nach Lipizach am 6. Juli 2022

Der Blick über Klagenfurt bis nach Lipizach am 6. Juli 2022

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 23018