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Tag zwei der Katastrophe

Heute ist Tag zwei der Katastrophe. Die Stadt ist verwaist. Es sind so wenige Menschen unterwegs, dass man einander oft grüßt, wie in einem Dorf. Jene, die umhergehen, sind viel besserer Stimmung als üblich. Vor allem sind weit mehr Kinder als normal draußen. Und sie lachen mehr. Manche erledigen Arbeiten, die sie sonst nie machen würden, beispielsweise einen Zaun von außen mit Dampfstrahler, Schwamm und Bürste säubern. Man kommt sich auch näher, Buben und Mädchen, Männer und Frauen. So gesehen ist die Katastrophe gar keine.

Die Polizistin und der Polizist bewachen am 17. März 2020 das Rathaus von Klagenfurt

Die Polizistin und der Polizist bewachen am 17. März 2020 das Rathaus von Klagenfurt

Der Alte Platz von Klagenfurt mit der Pestsäule am 17. März 2020

Der Alte Platz von Klagenfurt mit der Pestsäule am 17. März 2020

Johannes Tosin
(Text und Bilder)

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen ... | Inventarnummer: 20035

Laubbläser im Regen

Klatschnasse Blätter
Noch nässerer Bläser
Der Mann trieft
Es tropft von Bäumen

Durchtränkte Fetzen
Von Laub
Von Papier
Von Hoffnung

Nichts hebt sich
Von selbst
Alles muss
Er muss

Volle Kraft nach unten
Lohn der Mühe ist gering
Beinahe alles bleibt
Am Boden haften

Sein Begleiter
Sieht ihm zu
Dessen Grinsen umspielt
Schadenfrohe Züge

Wann hat es sich
Ausgeregnet?
Wann ist er fertig
Ausgelacht?

Carmen Rosina

Möchten Sie wissen, wie es dem Laubbläser im Sturm und dem Laubbläser im Schnee ergangen ist?

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen ... | Inventarnummer: 19129

Oktober

Am kleinen Balkon
ist es zu laut,
Doch der Keller
führt in die Sonne,
Bänke
Tische
Raues Holz,
ringsum liegen Zäune und Gitter
seltsame Gefängnisse bauen Menschen
In das Cyan lege ich meine Sorgen,
Dort bei der Brücke
Autos
Fahrräder
Busse
lautes Rauschen
unter der Brücke fährt der Zug vorbei
auf einem Meer voll Schienen
Motorboote
Die Sonne
wärmt das kalte Fleisch,
unsichtbare Geschwüre
bilden sich langsam zurück

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: An Tagen wie diesen | Inventarnummer: 19123

Blamage im Billa

Am Praterstern, Samstag, 19. Mai, kurz nach 18 Uhr, auf dem Rückweg von einem Badetag im Gänsehäufel, Kleinigkeiten einkaufen für den Sonntag, für Montag auch noch, das Pfingstwochenende. Nach der Kasse an der langen Bank vor dem Ausgang packe ich meine Einkäufe in den Rucksack. Nicht weit davon sitzt ein alter, arm und sehr mager aussehender Mann. Der erste Blick. Mir fällt der altertümliche, schwarze Anzug mit einem dem bis zum letzten Knopf geschlossenen weißen Hemd auf, die Kragenspitzen aufgestellt, keine Krawatte vor der eingefallenen Brust.

Der heißeste Tag dieses heißen Jahres. Das Sakko ist eng, langgeschnitten und wirft am unteren Rand Falten. Fast ein Frack. Er sitzt auf dem Bord und schneidet mit einem Taschenfeitel Scheiben einer Wassermelone in kleine Stücke und spießt sie auf die Klingenspitze.
So eine vorgeschnittene Packung kaufe ich auch öfters, weil für mich allein eine ganze Melone meist zu viel ist. Langsam, genüsslich und mit einer leichten Eleganz in den Bewegungen verleibt er sie sich ein. Er zelebriert, das ist kein gewöhnliches Essen, sondern ein Ritual, es ist ein Verzehr, wie sich ein Priester im Gottesdienst bei der Verwandlung die Hostie, den Leib Christi, auf die Zunge legt. Dabei öffnet er den zahnlosen Mund, legt den Kopf in den Nacken und füttert sich selbst mit gespitzten Lippen, wie Vogeljungen von ihren Eltern einen Wurm in den Schnabel gestopft bekommen. Dazu passt sein Vogelgesicht, ein eingetrockneter Habicht, oder nein, sagt meine Gehirnkamera, eher das von einer ausgetrockneten Eidechse mit riesenhaftem Adamsapfel.

Der Mann lässt die Melonenstückchen von der Klinge direkt in den offenen Mund gleiten. Dabei schließt er genüsslich die Augen. Wenn es um den Eingang nicht so laut gewesen wäre – um diese Zeit herrscht beim Billa Blockabfertigung – hätte ich ihn vor Genuss vielleicht stöhnen und schmatzen hören können. Wie alle Zahnlosen stülpt er die Lippenwülste weit vor und dehnt sie wieder aus; innen in der Mundhöhle zermalmen die Kiefer gegen den Gaumen die Melone zu einem Brei, der sich leicht schlucken lässt. So erklärt sich das alte Wort „Mahlzeit“. An den Mundwinkeln rinnen kleine, rote Bäche von Saft in die Falten und tropfen vom Kinn in den Hemdkragen.
Wie viel man mit einem einzigen, schnellen Blick erfassen kann, wundere ich mich noch, oder ist es nur meine Angewohnheit des Fotografierens beim Schauen. Klickklickklick - festgehalten.

Sein Anzug ist von einem Aussehen, das es in der Wirklichkeit nicht mehr gibt. Nur auf vergilbten Fotos oder im Fundus für Zwischenkriegsfilme, ein Flüchtling mit einem Köfferchen, auf den letzten Zug wartend, um in die Tschechoslowakei zu entkommen, mit einem Köfferchen neben sich. Nervös in Gmünd, der letzte Emigrant. Sicher muss ich so eine alte Fotografie einmal gesehen haben, sonst wäre sie jetzt nicht wieder aufgetaucht. Dieser Anzug. Ursprünglich aus gutem Stoff, aber durch die Zeiten gewellt und gebrochen, spiegelig dünn, mit Gelbstich, Grünspan. Sogar den Geruch konnte man ihm ansehen: Mottenkugeln, Tabak, Schweiß und Männerurin. Neu nur der Melonenduft. Die aufgebogenen Hemdkragenspitzen über den Revers kamen ebenfalls aus diesem Bild, wie ausgeschnitten oder eingefroren in einem Kader.

Ich hatte neben anderen Dingen eine Packung Pfirsiche gekauft, diese von der flachen Art, Marke Saturn, ich habe sie immer für lachhaft gehalten und erst vor kurzem für mich als köstlich entdeckt. Da dachte ich mir, dieser genießerische Typ könnte ein paar gebrauchen und genauso verspeisen wie seine Melone. Aber es war kein Denken und kein bewusstes Entscheiden. Was hat mich dazu veranlasst? Mein alter Sozialreflex auf offensichtliche Armut? Er hatte in der Tasse neben sich eine weitere dreieckige Scheibe, noch von der Folie überzogen. Ich brach mein Körbchen mit Saturn auf, nahm spontan drei von den sechs Pfirsichen heraus und wandte mich an meinen Nachbarn: „Darf ich? Guten Appetit.“ Damit legte ich ihm die Früchte in seine Tasse.

So schnell konnte ich gar nicht schauen, wie der Alte die Früchte, eine nach der anderen, aufnahm und sie mit ungeahnter Wucht in den neben ihm stehenden Mistkübel schleuderte, dass die darin liegenden Plastikfetzen und zerknüllten Rechnungen aufspritzten. Entsetzt sprang ich dazu, holte sie blitzschnell heraus, hielt sie ihm unter die Nase und fragte ihn, mich aufrichtend, warum er so böse sei, was ich ihm angetan hätte. Es folgte ein Schwall von nicht ganz verständlichen Schimpfwörtern, von denen das deutlichste „Drecksau“ war.

Ist das mein feines Gehör für Sprachnuancen oder eine political incorrectness, dass ich heraushörte, dass er „bömakelte“, also einen tschechischen Akzent hatte. Kann auch slowakisch gewesen sein. Von dort kommen viele Sandler nach Wien, oder Menschen, die in Wien zu Sandlern werden. Ich kenne sie gut aus der Gruft von der Caritas. Wie auch immer, ich registrierte, dass er nicht auf rein Wienerisch schimpfte, was ich besser verstanden und replizieren hätte können, zumindest a bissl besser.
Mein Puls war sicher schon auf 180, als ich aus dem Billa stürzte und mich durch die Halle durch die Menschenmassen kämpfte.
Geradeaus U2, Rolltreppe runter, U1, links Richtung Oberlaa, rechts Leopoldau, noch einmal fast endlose Gänge und Rolltreppen. Die Lifte haben sie noch nicht erfunden oder ich habe sie vergessen. Aber sie kommen ohnedies nicht in Betracht, dort warten immer die Kinderwägen.

Der Rucksack schwappt auf meinem Rücken, und die Badetasche schlägt mir in die Knie. Schon ganz unten auf meinem Bahnsteig beuge ich mich tief nach unten-vorne, um Atem zu schöpfen.
Da packt mich eine so unmäßige Wut, dass ich umkehre, mit allen meinen schweren Taschen die Rolltreppe wieder hinauf, irgendeinen Junkie-Aufstand in der Halle mit Polizei und Hunden ignorierend, mich durch die Massen dränge und noch einmal den Billa-Markt betrete – absoluter Irrsinn, denn ich schleppe nicht nur meine schwere Badetasche aus dem Gänsehäufel, sondern auch die nicht geringen neuen Einkäufe mit mir, und das alles am heißesten Tage des bisherigen Jahres mit 32,3 Grad in Wien.

Der Praterstern ist ja sowieso der irrste Punkt von Wien, das kenn ich ja, normalerweise gehe ich mit wissenden, aber gnädig geschlitzten Augen durch, angeblich alles unter der Beobachtung von offensichtlicher oder bedeckter Polizei und unauffälligen Streetworkern. Noch habe ich kein Gefühl dafür, ob das vor kurzem ausgesprochene Alkoholverbot die Lage beruhigt hat oder das Gegenteil. Ob es sinnvoll war oder nur deppert.

Die ganze Zeit, während des Taschenschleppens und des Körpergedrängels, zwischen den zumeist hässlichen, zu kurzen Höschen mit angeschnittenen Arschbacken oder zu engen Leggings, was man sich da alles ansehen muss von Fett und Wabbelbeinen, was ich nie im Leben sehen wollte, jagt ein Shitstorm durch mein Gehirn, wie ich den schimpfenden Vogel ansprechen, beschimpfen, ja, bestrafen sollte. Er musste seine Strafe erhalten! Wie leicht, ihm einfach den Hals umzudrehen. Ich entscheide mich für das Naheliegendste, dass er sehr alt war, krank, unterernährt und nicht mehr lange zu leben hätte. Himmel oder Hölle. Gut oder böse. Nix davon.

Die Vogelscheuche im schwarzen Anzug saß noch immer auf der Bank und verzehrte seine letzte Melonenscheibe. Alles Obszöne, dessen ich mächtig bin, verwarf ich. Ich entschied mich für eine kurze, mir präzis und entsprechend der Abweisung erscheinende Aussage.
„Wenn Sie so bös sind, werden Sie bald sterben!“ Spricht der Racheengel. Damit beugte ich mich zu ihm hinunter und legte ihm noch einen Pfirsich namens Saturn auf die Tasse, in meinem moralischen Koordinatensystem war es das Schlimmste, jemandem den Tod zu wünschen oder ihn anzukündigen. Das kann ich.
Wie er all das aus seinem zahnlosen, bömakelnden, melonenmummelnden Mund herausgebracht hat, und noch dazu in einer ungeahnten Lautstärke, die Stimme so hoch und schrill, dass es den allgemeinen Supermarktlärm durchdrang, zumindest im Eingangsbereich: „Du Dreckschwein, krepier, i brauch nix, du oedes Dreckschwein, oedes! Ich brauch nix, du krepier, krepier, oede Vettel, du Sau du, dreckige, oede, stinkade Fut du. Du Fut du, oede Fettl, weg do.“

Und vieles mehr, was ich nicht so genau verstand. Irgendwas von Teufeln und Höllen und Hurenböcken. Und das in Wiederholungen, immer lauter und höher, sodass sich die Menschen im Eingangsbereich uns zuwandten, sich schon eine leichte Mauer aus Menschenkörpern und Einkaufswagen aufbaute, bis ich gerade noch an den Security-Männern in die Halle entwischen konnte.
Letztlich war ich eine Illegale mit schweren Lasten auf beiden Schultern, stolpernd und im Wackelgang und einem wie wahnsinnig schlagenden Herz und explodierendem Gehirn. Angstangstangst macht Beine. Aber die hinter mir bellenden Hunde galten nicht mir, sondern waren Teil einer Razzia, wahrscheinlich im Zuge der neuen Anti-Alkoholbestimmungen.

Trotzdem machte ich einen Rösselsprung, dass die Flaschen im Rucksack gefährlich aneinander schepperten. Hundegebell, Trillerpfeifen, Schrittetrappeln hinter mir. Plötzlich war ich ein afghanischer Asylwerber, eine albanische Roma-Bettlerin, ein Wiener Junkie und ein slowakischer Alki, alles gleichzeitig. Das macht Beine, und wie! Irgendwie entkam ich runter in die U1, wo ich mit Glück einen Sitzplatz ergatterte, auf dem sich mein Puls bis zur Taubstummengasse beruhigte, mein Herz-Gemüt aber bis jetzt nicht.
Das kann einfach eine Begegnung mit einem Kranken gewesen sein, der in Ruhe seine Melone verzehren wollte, und ich habe ihn dabei gestört. Oder ein ehemals nobler Herr, der sich durch meine ungeschickte, aber mild gemeinte Gabe gedemütigt fühlte. Wieder einmal ein Beweis dafür: Gut gemeint muss nicht gut sein. So versuchte ich mich zu trösten. Mein Schenk-Reflex traf bei ihm auf einen ganz anderen, der genauso wie meiner aus seiner Geschichte kommen musste. Was für eine Geschichte?

Aber wenn ich etwas weiß, dann ist es ganz sicher, dass die erste Assoziation beim Anblick dieses „Herren“ im Billa-Markt die Fotos des Nazis und Mörders Oskar Gröning war, gesehen und gelesen darüber online in der FAZ. Der 94-jährige „Buchhalter von Auschwitz“, eben in einem Prozess in Lüneburg zu vier Jahren Haft verurteilt. Vier Jahre für einen 94-Jährigen! Im Billa am Praterstern war sein Zwillingsbruder gesessen. Irrsinn oder Erbe? Irrsinniges Erbe. Auf jeden Fall war das Ende meines Badeausflugs ein lebendiger Albtraum.

18.5.18

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen ... | Inventarnummer: 19043

Spital

Keine Versicherung,
alles tobt,
Wirbelwind,
er brennt in den Augen,

Der Muskel, er klopft,
unregelmäßig,
er joggt gerade,
Enge kommt mit dem Geld
Blaue Lichter halten vor der Tür

Fallnummer am Handgelenk,
warten und Augen schließen,
Kreise gehen
Hier liegen Halbtote,
Husten,
aggressive Menschen,
Ich trinke kaltes Wasser

Die Ärztin bohrt mir ein Loch
in den Arm,
gleichzeitig macht sie Witze,
mit dem Pfleger,
wieder warten,

Nach Stunden
weiß ich
alles in Ordnung

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: An Tagen wie diesen | Inventarnummer: 19029

Erwarten können (Bühnenversion)

Drei Personen:
Sprecher/in (Text in Schwarz)
Marek, der tschechische Kellner (Text in Blau)
Jana, der Gast (Text in Rot)

Auch heute wurde Jana wieder der kleine Ecktisch zugewiesen. Von dort bot sich der beste Blick in das Lokal, von hier aus konnte man die anderen Gäste beobachten, aber auch hinaus auf den Hauptplatz blicken.
Das Pflaster der schmuck herausgeputzten Kleinstadt glänzte an diesem nasskalten, späten Winterabend. Die pittoresken, liebevoll beleuchteten Häuser mit ihren Fassaden, an denen die Jahrhunderte abzulesen waren, im Hintergrund der Turm des imposanten Schlosses.

Sie hatte sich hübsch gemacht, ihr festliches kirschrotes Jerseykleid brachte Rundes auf schmeichelhafte Weise zur Geltung.
Sie trug es nicht oft, denn meist war die Farbe stärker als sie selbst. Sie wählte das Kleid also nur, wenn sie dem Rot Kontra geben konnte. Etwa durch jene seltenen Gefühle von Ausgelassenheit und Übermut, die zu bündeln ihr in jungen Jahren gut gelungen war.
Heute war dem Rot aber auch beizukommen, mit ausgeprägter Gemütsruhe nämlich.
Genau so ein Abend war heute, mit innerer Balance bot sie dem Rot die Stirn.

Jana blätterte nahezu erwartungsvoll in der Getränkekarte, als ob diese heute ein gänzlich neues Angebot für sie beinhalten könnte.
Der Kellner näherte sich ihr nach einigen Minuten und fragte mit tschechischem Akzent: „Möchten Sie bestellen, gnädige Frau, oder warten Sie noch auf jemanden?“

„Ja, ich warte. Aber ich würde dennoch gerne bestellen.“

Das Restaurant war gut gefüllt. Die kleinen Tische waren fast ausschließlich mit jeweils zwei oder drei Personen besetzt, darunter einige, die Jana als Touristen zu erkennen meinte.
Der Kellner stellte einen Gin Tonic auf Janas Tisch und machte dabei eine angedeutete Verbeugung.
„Ich habe mir erlaubt, ein kleines Stück Limette zu ergänzen. Und wenn Sie mir die Bemerkung gestatten: Eine Dame wie Sie sollte man keinesfalls warten lassen.“
Sein Gesicht blieb dabei seltsam entspannt und er lächelte sie offen an.

Jana erwiderte überrascht:
„Danke sehr, schon gut. Aber ich warte gern. Noch dazu bei dieser prächtigen Aussicht.“

Er nickte und meinte zustimmend:
„Ja, wir alle haben gelernt zu warten, schon als Kinder, auf die Ferien, auf das Christkind, auf die Geburtstagsfeier.
Der Sehnsucht war man ja recht hilflos ausgeliefert. Es war richtig schwer zu warten. Aber es hat die kindliche Vorfreude nicht getrübt.“

Jana antwortete freundlich:
„Tja, so war es. Aber mittlerweile habe ich einen langen Atem. Man lernt schließlich dazu, die Leerläufe im Alltag mit Gleichmut hinzunehmen: bis der neue Badezimmerschrank geliefert wird, der PC hochgefahren ist, oder der träge Aufzug endlich eintrifft.“

Jana fühlte sich hier wohl. Sie aß ein Paar Frankfurter mit Senf und Kren und trank ein Seidel Bier dazu. Danach genoss sie die Stille im Warten und das Nichts-zu-tun-Haben.
Sie sah von ihrem Tisch aus durch das großflächige Fenster auf die beleuchtete Stadt hinaus. Und sie hatte ausreichend Zeit, die hübschen Häuser der Stadt einzeln auszumachen und mit ihrem Blick am weihnachtlich beleuchteten Brunnen am Hauptplatz zu verharren.
Dann gab ihr Smartphone ein kleines Signal und sie hatte Zeit, eine Nachricht ihrer Tochter Tereza, die in Budweis auf sie wartete, in aller Entspanntheit zu beantworten.

Aus dem Nebenraum kommend, trug der Kellner einen Aschenbecher voller Zigarettenstummel an ihr vorbei, auf die Janas Blick fiel.
Er bemerkte es und flüsterte ihr zu:
„Schlechthin das Synonym fürs Warten.“

Er blieb kurz stehen und sinnierte laut weiter:
„Und es ist beileibe nicht immer Sehnsucht, die das Warten so schwer macht. Oft ist man dabei auch voller Furcht, beim Warten auf ein Prüfungsergebnis, auf den Pannendienst, die Polizei, auf Asyl in einem friedlichen Land.“

Jana setzte fort:
„Ja, oft ist die Furcht existenziell beim Warten auf eine Diagnose, eine Spenderniere, auf Regen bei Dürre, auf den Wasserhöchststand bei Überschwemmung.“

Er wirkte bestürzt angesichts der genannten Beispiele:
„Menschen warten praktisch immer auf bessere Zeiten, auf die große Liebe, das Glück.“

Sie erzählte:
„Ich fragte mich als junge Frau oft: Wann beginnt endlich das richtig schöne Leben, jetzt wo ich so viel abgenommen habe?“

Er lachte und sagte:
„Oder das Warten auf Antwort von dem Mädchen, in das ich mich als Jugendlicher verliebt hatte – das war schwerer zu ertragen als die spätere Erkenntnis, dass sie mich gar keiner Antwort für würdig hielt.“

Jana sah den Kellner erstaunt an, als dieser verschwörerisch fortfuhr:
„Und nicht zu vergessen, das Warten auf meine Frau, bis die sich endlich für die richtige Theatergarderobe entschieden hat.“

Er entfernte sich zügig Richtung Küche und Jana konnte gerade noch sehen, dass kleine Schweißtropfen auf seiner Stirn glänzten. Die Arbeitskleidung war hochgeschlossen, die bodenlange dunkle Schürze sah zwar professionell aus, musste aber unpraktisch sein, so mutmaßte sie.
Ein Großteil des Personals ist der Gastronomie kam aus Tschechien.
Kellnern war harte Arbeit, viele Gäste blieben nur auf ein Getränk, die Tische wurden etwa halbstündlich neu vergeben, es wurde bestellt und serviert und kassiert, alles mit ausgesuchter Höflichkeit und dennoch hielt der Kellner immer wieder einmal auf einem seiner Wege bei Jana an (oder schlug sogar einen kleinen Umweg über ihren Tisch ein), um ihr gemeinsames kleines Gespräch über das Warten fortzuführen. Sei es auch nur mit einem Satz, dem sie aus Zeitmangel ihres Gesprächspartners manchmal gar nichts entgegnen konnte:
„Das Gefühl, wenn der Installateur nicht und nicht daherkommt.“

Ein paar Minuten später:
„Hatten wir eigentlich das banale Wartezimmer schon? Und den Zug? Auf Bahnsteigen steht die Zeit ja oft scheinbar still.“

Nach dem Abservieren am Nebentisch:
„Vom endlosen Warten auf den Sommer ganz zu schweigen.“

Nach dem Abkassieren einer aufwändig zu teilenden Zeche einer Gruppe Touristen murmelte ihm Jana zu:
„Nicht zu vergessen das Warten auf den Zahlkellner.“

„Oh, Sie wollen doch nicht etwa schon gehen, gnädige Frau?“
Er wirkte müde, es war 23 Uhr.

„Nein, nein, aber ich hätte noch gerne ein Kännchen grünen Tee, bitte, wenn Sie so nett wären.“

Das Warten war für Jana heute kein unliebsamer Zustand. Sie fühlte sich nicht passiv oder einer Langeweile ausgesetzt, sondern es ermöglichte ihr auf eine entschleunigte, fast poetische Art, in sich selbst hineinzuhorchen und rückwirkend das nun schon fast vergangene Jahr zu betrachten.

Da sah sie den Kellner, der mit dem Tee auf sie zusteuerte und ihr beinahe keck zuraunte:
„Und erst das Warten auf die eine Gelegenheit!“
Er entfernte sich beinahe triumphierend angesichts ihres verdutzten Blicks.

Als die Glocken der Stadtpfarrkirche begannen, mit ihrem mahnenden Geläut zur Mette zur rufen, ging Jana kurz vor die Tür.
Diese Glocken luden nicht froh zum Feiern, nein sie forderten vehement die Disziplin zum Kirchgang ein. Und diesem übermächtigen Klang war nichts hinzuzufügen oder entgegenzusetzen, er erfüllte den Raum und die Zeit aller, egal ob katholisch oder nicht.

Als sie wieder zurückging, hatte sich das Lokal beinahe geleert und die mitternächtliche Sperrstunde nahte.
Der Kellner sah auf seine Armbanduhr und löste seine Arbeitsschürze, während er – abwechselnd mit Jana – heiter und zusammenhanglos die eine oder andere Wartesituation aufzählte.

Plötzlich fasste Jana den Kellner spontan am Arm, er drehte sich überrascht zu ihr und folgte ihrem Blick durch das große Fenster hinaus auf den Hauptplatz:
„Oh, sieh nur, Marek, jetzt ist er da, der Schnee! Er kommt stets nach Belieben einfach irgendwann. Oder man wacht auf, und er ist plötzlich da, über Nacht.“

„Oder man rechnet nicht mit ihm, bis dich plötzlich jemand an der Schulter fasst und aus dem Fenster deutet.“
Der Kellner Marek fuhr Jana liebevoll über den Kopf:
„Aber jetzt komm, Jana meine Liebe, lass uns nach Hause fahren, Zeit für unser Weihnachten. Tereza wartet schon so lang auf uns. Ich möchte jetzt wirklich gerne meine Beine hochlegen. Wir haben doch noch die gestern angebrochene Flasche von dem Rotwein? Und Hunger habe ich auch.
Wie schön, dass du mir Gesellschaft geleistet hast und auf mich gewartet hast.“

Michaela Swoboda
Szenisch dargeboten bei Theaterzeit Freistadt 2018

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen | Inventarnummer: 18132

 

Lampen, Uhren und Geschichten

Es ist 22 Uhr 24. Grell. Der Schein meiner Schreibtischlampe irritiert mich. Seit genau einer Stunde starre ich nun auf das leere Blatt Papier vor mir. Nichts. Immer noch nichts. Eine Stunde und nichts. In ziemlich genau zwanzig Minuten wird sie nach Hause kommen, und ich muss meine Arbeit beenden. Gezwungenermaßen. Sie hält nicht viel von meinen Geschichten. Vermutlich zu Recht. Charakterlose Figuren in seelenlosen Räumen mit fragwürdigen Motiven, die langweiligen Tätigkeiten nachgehen. Unspektakulär. Mit einem Wort: real. Sie erkennt sich in meinen Erzählungen wieder, deswegen kann sie nichts mit ihnen anfangen. Absurd eigentlich. Als würde man in einen Spiegel sehen und sein Gegenüber nicht wahrhaben wollen.

22 Uhr 26. Ich drehe meine kleine Stereoanlage auf das Maximum der minimalen Lautstärke, um meine Lieblingsstelle im „Schwanensee“ von Tschaikowsky einigermaßen genießen zu können. Ich schalte die Lampe aus und schließe die Augen. Dunkelheit. Tschaikowsky, immer noch zu leise, im Hintergrund. Augen auf, Lampe wieder an. 22 Uhr 27, falsche Stelle. Grell. Ich muss mich erst wieder an das Licht gewöhnen. Eine Weile blicke ich einfach auf den Zettel vor mir, bis ich die Anlage schließlich zurück auf ein Minimum stelle. Mit klassischer Musik habe ich eigentlich nicht viel am Hut. Mozart, Beethoven und Bach. Die drei Großen ihrer Zeit kenne ich natürlich. Oder waren es Bach, Mozart und Haydn? Ich weiß es nicht. Aber Tschaikowsky finde ich trotzdem schön.

Ich prüfe die Spitze meines Bleistifts. Perfekt. Nicht zu spitz, sodass er abbrechen könnte, sobald man ihn auf das Papier setzt. Genau richtig. Wenn mir jetzt nur irgendetwas einfallen würde. Etwas Großes. Es muss schon etwas Großes sein. Natürlich ist mir klar, dass ich weder Tolstoi noch Hemingway noch Schnitzler bin, aber Kehlmann würde ich hinkriegen. Vielleicht. Oder nicht? Von ihm ist doch dieser Roman über die beiden Herren, die durch die Welt reisen und etwas abmessen sollen? So oder so ähnlich, glaube ich. Oder war der von Köhlmeier? Jedenfalls soll die Geschichte ziemlich gut gewesen sein. Aber wer möchte sich schon mit anderen vergleichen. Man ist schließlich einzigartig. Und so sollen auch meine Texte sein. Nicht so wie von diesem Kehlmann oder Köhlmann.

Ich lehne mich zurück, lege den Kopf in den Nacken. Obwohl die Musik läuft, höre ich das unablässige Ticken der Uhr. Tick, tick, tack, tick, tack, tick, tick, tick, tack. Einmal tief einatmen und ausatmen. Weiter geht‘s. Nur womit? Es gibt noch nicht einmal einen Anfang. Beunruhigt wandert mein Blick auf die silberne Taschenuhr, die ich vor mir auf den Tisch gestellt habe. 22 Uhr 33. Zumindest einen Absatz möchte ich heute schaffen. Einen kurzen. Ein paar Sätze nur. Meinetwegen etwas Banales, wie die Fahrt in der Straßenbahn. Oft sind die langweiligsten Einstiege die mit der besten Geschichte im Gefolge. Ich setze den Stift auf das Papier und halte die Luft an. Wieso? Grell. Das Licht ist beinahe unerträglich. Wenn sie nach Hause kommt, werde ich sie um eine neue Lampe bitten. Unmöglich, so zu arbeiten. Mit einem Stoß lasse ich die Luft wieder aus meinen Lungen. Mein Glaube, dass mit der Luft auch die Ideen aus mir herauskommen würden, hat sich leider nicht verwirklicht. Trotzdem versuche ich es immer wieder. Tick, tick, tack. Der Schwanensee ist aus. Die Aufnahme ist relativ kurz. Ich habe gehört, dass sie eigentlich viel länger ist. Ich wüsste gerne, was fehlt.

Immer noch liegt die Mine des Bleistifts am Papier auf. Aber viel mehr als ein Punkt ist es noch nicht. Weit entfernt davon, ein Wort zu sein. Wie beginnt noch gleich Vernes „In achtzig Tagen um die Welt“? „Im Jahr achtzehnhundertirgendwas wohnte in dem Haus, in dem jemand gestorben war, ein Mann namens Phileas Fogg.“ So ungefähr war das doch. Auch kein bahnbrechender Anfang. Aber es ist einer. Und wer hätte damals gedacht, dass dieser simple Satz der Beginn eines der erfolgreichsten Werke der klassischen Literatur werden würde? Verne selbst vermutlich nicht. Wie lange das wohl gedauert hat? Diesen ersten Satz zu schreiben, meine ich. Ob er auch so lange überlegt hat? Gut Ding braucht eben Weile, sagt man doch.

Ich hätte vorher Ideen sammeln, meine Gedanken aufschreiben sollen. Viel zu selten mache ich mir Notizen. Und was ich notiere, findet selten Verwendung. Wenn ich nur einen klaren Gedanken fassen, ihn formulieren könnte. Mein Blick wandert im Raum umher. Viel gibt es nicht zu sehen. Nur wenig erinnert mich überhaupt an irgendetwas. Auch in den Schubladen meines Schreibtischs werde ich nicht fündig. Unnötiger Krimskrams, sonst nichts. Ich lege den Bleistift weg und nehme den kleinen Papierkranich, der viel mehr wie ein Pferdchen mit Flügeln aussieht, in die Hand. Ein paar Mal drehe ich ihn herum, dann lege ich ihn wieder zurück. Ich sehe ihn weiter an. Eine Erinnerung, die ich nie vergessen werde. Vor langer Zeit hat ihn mir jemand geschenkt. Einfach so war er in meiner Westentasche, den Moment weiß ich noch genau. Plötzlich war es in meinem Leben, das Mädchen, von dem ich dachte, dass ich niemals einen Tag ohne es sein könnte. Das letzte Mal habe ich es vor fünf oder sechs Jahren gesehen. Wann und wo, weiß ich nicht mehr. Wie wichtig diese ersten Male sind, während das letzte Mal oft keine Bedeutung hat. Irgendwann ist es einfach so weit. Ohne es zu merken, ist der wichtigste Mensch in deinem Leben gar nicht mehr so wichtig und nur noch eine Erinnerung auf einem Bild an der Wand oder eben ein Origami auf deinem Schreibtisch. Vielleicht sollte ich das aufschreiben.

22 Uhr 41. Jede Sekunde könnte ich den Aufzug hören, den Schlüssel, das Schloss dreht sich um, Tür auf, sie steht in der Wohnung, in meinem Zimmer. Nein. So weit darf es nicht kommen. Ich möchte sie heute nicht mehr sehen. Sobald ich den Lift höre, sofort Licht aus und ins Bett unter die Decke, Augen zu und ruhig atmen, wenn sie die Zimmertür aufmacht, soll sie glauben, ich schlafe. So mach ich das. Tick, tack, tick, tick, tack.

Man sollte meinen, heutzutage besitzt man keine Taschenuhr mehr und wenn, dann ist es ein Erbstück oder ein Geschenk vom Großvater oder Ähnliches. Ich wünschte, ich hätte eine tolle Geschichte zu dieser Uhr, hab ich aber nicht. Vor einem Jahr etwa habe ich sie in einem Uhrengeschäft gekauft, kein Second-Hand-Laden, sie ist neu, schlicht, ohne großartige Verzierungen, innen ist ein einfaches Ziffernblatt. In regelmäßigen Abständen muss man sie aufziehen. Wenn mich die Leute danach fragen, erzähle ich, sie sei von meinem Urgroßvater, der sie im ersten Weltkrieg einem gefallenen Soldaten abgenommen hat. Alle glauben sie mir. In Wahrheit weiß ich gar nicht, ob einer meiner Urgroßväter oder Großväter in irgendeinem Krieg gekämpft hat. Darüber werde ich wohl nicht schreiben.

Mein Blick haftet wieder am Papier, der Stift ist in meiner Hand. Je einfacher, desto besser. Einen Moment schließe ich meine Augen, mein Kopf ist völlig leer. Die Sekunden verstreichen. Dann öffne ich sie wieder. Und es geht los. Endlich habe ich eine Idee. Ein Wort, eine Phrase, ein Satz nach dem anderen. Ich kann gar nicht aufhören. Wie ich es geplant hatte, beschreibe ich die Menschen, die Räume, die Absichten dieser Menschen, so wie ich sie kenne. Es soll möglichst realistisch sein. Keine Fantastereien. Eine Milieustudie sozusagen. Längst sind aus einem Absatz zwei, sogar drei oder vier geworden. Der Bleistift ist immer noch spitz genug, von ihr keine Spur. Normalerweise ist sie pünktlich. Genau um 22 Uhr 47 schließt sie für gewöhnlich die Wohnungstür auf. Seit ich mich erinnern kann, war das nie anders. Jeden Mittwochabend. Sie steigt um 22 Uhr 24 in die Straßenbahn, fährt achtzehn Minuten bis zur Endstation und von dort geht sie die restlichen fünf Minuten zu Fuß bis zu unserem Haus, in unsere Wohnung. Ich lege den Bleistift zur Seite. Drehe meinen Kopf in Richtung Uhr.

Ein Knall. Ich schrecke auf. Grell. Das Wasserglas, das ich auf den Schreibtisch gestellt habe, ist zu Boden gefallen und zerbrochen. Wasser überall. Ich muss eingeschlafen sein. Das Licht blendet mich. Mein Blick fällt auf das Blatt Papier. Es ist leer. Es wäre zu schön gewesen. Die Stille um mich herum beunruhigt mich. Ich schaue auf die silberne Taschenuhr vor mir. 22 Uhr 41. Die Uhr tickt nicht mehr. Sie muss stehengeblieben sein. Meine Augen brennen. Ich schalte das Licht aus.

Anna Bartl

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen | Inventarnummer: 17162