An den Rändern des Universums

Ein Leseerlebnis mit Karl Lubomirskis Gedichtband „Unbewohnbares Rot“
(Löcker Verlag, Wien, 2019, ISBN 978-3-85409-961-1)

Es gibt viele Wege, die einen zur Lektüre eines Buches führen können. Alle haben etwas Rätselhaftes an sich, das wir uns nicht immer erklären können. Was zieht uns vom ersten Moment an? Was erregt die Aufmerksamkeit, die Neugierde? Einer dieser Wege führt über den Titel.

Karl Lubomirski wählt für seinen neuen Gedichtband den Titel „Unbewohnbares Rot“.
Das machte mich sofort neugierig, auch wenn das unbewohnbare Rot nicht sofort eingängig war. Aber Rot ist immerhin die normative Signalfarbe. Eine unbewohnbare Farbe ist aufs erste Lesen oder Hören ein unhandlicher Wortklotz. Ich habe eine Abneigung gegen die bar-Worte, noch dazu mit der negativen Vorsilbe un-! Uncharmant wie unleistbares Wohnen. weil sie immer eine Notlösung sind, eine Ungenauigkeit, um die sich jemand nicht genügend bemüht zu haben scheint. Ich habe die Gewohnheit, immer alles sofort umzudrehen und auf den Kopf zu stellen. Bewohnbares Rot. Weiß, schwarz – wäre das eine bessere Variante? Und überhaupt, was soll das, ein Wohnen in einer Farbe? Unbewohnbar – bewohnbar, das geht noch, aber was ist das Gegenteil von Rot?

Warum meint er, uns mit einem solchen sperrigen Wortkonglomerat wie un-be-wohn-bar anziehen zu können?
Aber das alles sind widerläufige Gedanken vor dem Lesen. Ungefähr so wichtig wie das Um- und Umdrehen des Buches oder das Blättern darin.

Du kannst fragen so viel du willst, Karl Lubomirski wird es dir nicht sagen. Wie ein „Knocking on Heavens Door“ und Aufstampfen mit den Füßen. So wie dort kannst du dir die Stirn blutig schlagen. Kein Klappentext, kein Vor- oder Nachwort gibt dir einen Anhalt. Das ist sicher seine Absicht und nicht den mageren Finanzen von Poesieverlegern geschuldet. Er will uns wohin führen. Nur, wohin? Also muss ich mich einlassen. Lesen und immer wieder lesen im unbewohnbaren Rot. Ich kann jetzt schon sagen: Es macht glücklich und glücklicher bei jedem Wiederlesen. Der Inhalt übertrifft das Geheimnis des Titels, der übrigens in keinem Gedicht vorkommt. Eine Spurenlegung mit Fährtensuche?
Er unterteilt auf 92 Seiten die Gedichte in vier Kapitel. Nein, zu viel gesagt, er bringt uns mit Überschriften auf den Weg, verlockt uns und lockt. Ja, aber wohin? An die Ränder des Universums und in die eigene Mitte.

Der in seinem Leben durch viele Weltgegenden gereiste Karl Lubomirski ist als Lyriker ein Seelenwanderer durch die Geschichte des Humanismus und ein Verteidiger der Kunst gegen die Wüsten des Kommentars. Mit seinem Dichterfreund und Universalgelehrten GeorgeSteiner lässt sich sagen: „Das Gedicht kommt vor der Auslegung. Das Gedicht ist, der Kommentar bedeutet.“
Fast eine Binsenwahrheit, aber es so klar auszusprechen und es subjektiv zu benutzen, ist für mich die einzige Art, mich K.L. zu nähern. Die vier Kapitel heißen:

Suche
Die Pforte
Duldungen
Wem

Ich werde jetzt ein Wort zurücknehmen: Inhalt.

Ich will nur noch dem Gewicht eines Gedichts nachsinnen, gleichgültig, ob es drei Worte hat oder über eine Seite geht. Nie kommt er mit Pauken und Trompeten daher, sondern eher mit einem Saitenklang einer Harfe oder dem Hauch einer Schilfrohrflöte. Aber wenn sich der Leser der Wucht seiner feinen Worte hingibt, verstärken sie sich zu Symphonien, die über Berge und Wüsten dahinbrausen, wenn man sich auf sie einlässt, sie in sich einlässt. Vor mir taucht das Bild einer Biene auf, die auf einer Blume nach Nektar sucht. Wie schwer wiegt das Gewicht einer Biene, wenn sie im Kelch verschwindet? Nur die Schwingung des Stängels wird es dir verraten. Und doch wissen wir, dass es ohne die Arbeit der Bienen keine Natur und keine Menschen gäbe. Eine übergroße Verantwortung. Der fast vergessene tschechische Dichter Ivan Blatný  hat einmal ein Gebet-Gedicht für die Erlösung der Bienen geschrieben. Brüder im Geiste – das Gewicht der Bienen und die Wärme zwischen den Schneeglöckchen.
Es ist kein Wunder, dass Lubomirski bei vielen unterschiedlichen Menschen Glocken zum Klingen bringt. Seine Gedichte sind bisher in 29 Sprachen übersetzt.

 

SCHÄRFERE KONTUREN
Es war ein Leben auf Probe
Weltkrieg, Notlösung
Auschwitz
viel Ferne, Fremde, Schmerz
Versagen, Beschränkung
Hoffen
den Sinn von allem
zu verstehen
der den Ozean erschuf
hat auch dich erschaffen
vielleicht
ist es zwischen zwei Schneeglöckchen
wärmer

 

UND DOCH
ist Gott
woraus auch Liebe ist
nur größer

 

DAVID
David schützte nur ein Kiesel
dieser Kiesel aber
war Gott

 

IN DEN BERGEN des Glücks
entspringen die Quellen des Leids

 

JESUS
Schön ist
dich unter uns zu wissen
unerkannt

 

VIELLEICHT IST die Allmacht Gottes
zu sein
und
nicht zu sein
wann
und wem
ER will

 

CHRISTUS vielleicht
wieder vom Kreuz nehmen
seine Wunden waschen
nähen, salben
ihn ankleiden
um Vergebung bitten
sich zu ihm unter den Baum setzen
zuhören
und fragen
wo er so lang gewesen

 

MACH DEINEN FRIEDEN mit der Welt
umarm den Baum
eh er Kreuz wird
leg dich nicht weg
das tun die anderen
die nie mehr nach dir suchen

 

Nicht bloß in Geschichte und Politik, sondern im Alltagsleben werden Probleme ja nicht gelöst, sondern ignoriert, bis andere, noch größere Probleme sie von der Tagesordnung verdrängen. So gesehen sind Lubomirskis Gedichte poetische Metaphern für das Vergehen der Zeit, die alle menschlichen Bemühungen unterläuft.

Die obigen Gedichte des Kapitels „Duldungen“ spenden Trost, ob sie nun Gott, Jesus, Christus oder David ansprechen. Der Dichter stellt ihnen menschliche Fragen, er appelliert an Christus, den Mensch gewordenen Gottessohn, als Mensch, macht sie nicht größer als sich selbst und hat vielleicht deswegen Fragen, die jeder stellen kann und bekommt Antworten mit menschlichem Angesicht. Ich, als nicht gläubiger Mensch, kann sie annehmen und in mich aufnehmen, Tag für Tag das Bild mit mir herumtragen, dass Jesus immer unter uns ist, wenn auch unerkannt. Also müsste man immer so handeln, als wäre er unter uns und in den anderen gegenwärtig. Das ist die eigentliche Sensation, die permanente Revolution des Christentums, wenn man den Jesus des Lubomirski beim Wort nimmt.
„Edle Einfalt und stille Größe“: Winckelmanns berühmte Formel fällt mir zu Lubomirski ein, dessen Gedichte unspektakulär daherkommen und sich gerade deshalb mit Widerhaken im Bewusstsein der Leser festsetzen.

Unter der Überschrift DIE PFORTE kommen die 21 Gedichte daher wie ein weiser und wissender Reisebegleiter durch die ganze Welt. Aber keiner wie von einer Agentur für Spaß und Abenteuer, Kreuzfahrtsversprechungen von Völlerei und falscher Freiheit.
Kreta, Apennin, Griechenland, Ägais, Zypern, Bosporus, Ligurien, Buchara, Karthago, Kilimandscharo. Er führt überall hin. In die Geschichte und Politik, in die Tageslagen und in die Natur. Aber immer zu den Menschen zurück und zu dir selbst. Er hat diese Meere und Bergketten selbst oft durchfurcht. Und wir bekommen daraus Diamanten und Rubine geschenkt.

 

DU
Du warst im Ozean der Menschen
mein Seepferdchen
dann Meer
und sein Refrain

Einen Tag vorher
habe ich gehofft
eine Stunde vorher
eine Minute vorher
habe ich gehofft
und seither hoffe ich
dass alles nicht wahr sei …
die Weltarche, das Sintflut-Leben
und kein Ararat
oder doch

 

ALLES WAR MIR KRETA
alles Labyrinth
aus deiner Augenhelle
führte kein Königskind

 

Texte, die reichen, um einem demnächst Achtzigjährigen, einem philosophisch, geschichtlich und ästhetisch Denkendem zu folgen. Wohin? An die Ränder der Universums, durch es hindurch zum Leser zurück. Dabei spielt das biologische Alter keine Rolle. Vielleicht sollte es unerwähnt bleiben. Aber mir persönlich ist es wichtig, immer wieder die alterslose Frische und Jugend der Gedichte zu genießen. Es kommt eben auf etwas anderes an: die Fähigkeit der ständigen Neuerschaffung und die Unvergänglichkeit der Kunst. Wer Lubomirski in sein Leben einlässt, wird nicht mehr so leicht verzweifeln und versinken in all den angesagten Katastrophenbildern. Ein Ankerplatz der Hoffnung.

Für mich ist er einer der modernsten lebenden Dichter. Modern, was heißt das schon – ein Dichter, den unsere Zeit gerade braucht. Mit einem Spürsinn, der sich so frei bewegt durch die abendländische Schriftkultur wie kaum ein anderer.

Lubomirski ist Spross einer uralten Fürstenfamilie, als Polen-Litauen eine mitteleuropäische Großmacht war und deren Mitglieder seither immer eine Rolle in Politik und Kultur spielten.
Aber man kann nicht die Geschichte Ost- und Mitteleuropas studieren, ohne über den Namen Lubomirski zu stolpern, ohne (er will es sicher nicht – und ich auch nicht) die genealogische Karte auszuspielen. Das wäre viel zu kurz gefasst und würde seinen persönlichen Verdiensten und Errungenschaften nicht gerecht. Aber dem nachzusinnen, das wird doch erlaubt sein.

Dazu gehört auch sein Vermögen, weit entfernte Lebens- und Wissensbereiche zusammenzudenken. Und das oft in einer Kürze und Prägnanz, so wie in einem Wassertropfen das ganze Meer enthalten ist, in einem Kristall das ganze Erdinnere.

Nicht einmal das Cover gibt ein eindeutiges Rot wieder. Rosa, Pink, Dunkellila, dazwischen Weiß in scharfen Dreiecken und Trapezen. Ihre Spitzen stechen ins Auge, wo sie zusammentreffen. Kein Rot einer Rose oder eines Klatschmohns, so wie wir die Farbe kennen. Oder in einer Staatsfahne. Vielleicht denkt noch jemand an die geschürzten Lippen einer Marilyn Monroe.

Wenn ich nichts, gar nichts, von Karl Lubomirski gehört und nichts von ihm gelesen hätte und nur dieses eine Gedicht bekommen hätte, würde ich ihn noch mehr lieben.

 

WEINE NICHT
such die Glockengärten auf
in deiner Stadt
eh sie verstummen

 

Ich lebe und schreibe gerade im Wiener Bezirk Wieden nahe an der Paulanerkirche. Ihre barocken Glocken klingen zu mir herüber, im Viereck der Karlskirche, St. Elisabeth und der Heiligen Thekla. Allein für ein Wort wie GLOCKENGÄRTEN müssen wir den Dichter lieben und ihn dankbar herzen. Was schwingt da alles mit an Klängen und Bildern! Eine Wolke, ein Regenbogen, ein Kosmos. Ich sehe alte Stadtansichten von Wien und stelle mir Panoramen des Karl Lubomirski von Innsbruck und Mailand vor. Wer immer das liest, hört je sein eigenes Moskau, Prag, Köln oder Krakau. Die „Schwalben von Krakau“, ein Gedicht aus einem früheren Gedichtband, sind lange, liebgewordene Begleiter geworden. Höchste Poesie und Zeitgeschichte in einem Tropfen von Poesie. Jeder kann die Schwalben hören und erahnen, wenn die Mädchen die letzten Himbeeren sammeln, kurz vor der Katastrophe.
Danach wird es keine Mädchen und ihre Liebsten mehr geben, keine Schwalben und keine Himbeeren.

 

DIE SCHWALBEN
Die Schwalben fliegen in
Krakau nicht höher
aber die Mädchen
pflücken ihren Liebsten
noch Himbeeren

Aus „Propyläen der Nacht“, Gedichte 1960 – 2000, Edition Atelier
Wie viele Geschichtsbücher muss ein Mensch lesen, um diese Tragik zu verstehen?

Ich vermute, dass er auch immer Babylon mitdenkt. Hatte Babel Glockentürme? Wahrscheinlich nicht, die Historiker schreiben nichts davon, aber der Dichter hätte sie trotzdem gehört. Vom Tod zur Vernichtung bis zur Auferstehung. Daher darf ich sagen, er tröstet, beschenkt und bereichert.

 

TOSKANISCHE VESPER
Blausamtene Tagesflügel
Säbelstimmen der Schwalben
Zypressen, Mönche
wilde Eber
letzte heilige Äpfel am Baum
müde Hornissen
wache Fasane
Musikgelage in heiligen Gräbern
beim Flötenspiel etruskischer Gäste tief in den Hügeln
wo alte Vulkane
mit Erdbebenhänden
um Dörfer würfeln

 

VOR DER JADEPFORTE KNIEN
hinter der die Menschenwege aufrecht stehen
wie Tafeln im Archiv der Schritte

 

Aber dann ist gleich wieder alles anders.
Von der Trauer in die Hoffnung gestürzt, und immer wieder umgekehrt.
Frisch und unterhaltend. Erkenntnisse, keine festen, aber wie die Geheimnisse der Steine von Rosetta. Wir wollen davon nur noch mehr. Ein Wort mehr von Lubomirski könnte uns erlösen.

 

GIB ACHT
das Amulett an deinem Hals
lockt auch Barrakudas

 

Wie in jedem Lyrikband lässt uns Lubomirski an seinen Selbstreflexionen teilnehmen, an seinem Blick auf die Rolle des Künstlers. Immer kritisch und doch selbstbehauptend.

 

KÜNSTLER
Sind anders
haben die Welt nicht im Griff
sie sind harmlos, arm
hoch über schattigem Riff
von wo man Ewigkeit sieht

 

P.S: Diesen Text, mein persönliches Nachsinnen über sein Buch, kommentierte Karl Lubomirski mit einem Gedicht:

DICHTER
Unscheinbar
wie Nachtigallen
singen sie
im Dickicht der Gedanken

 

Wien, am 28.4.19

Veröffentlicht in:
Der literarische Zaunkönig – die Zeitschrift der Erika Mitterer Gesellschaft,
Ausgabe 2/2019

Veronika Seyr
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