Lobio und Chatschapuri

Kaukasus in Wien

Auf meiner Straße machen in letzter Zeit immer mehr kleine Restaurants auf, die von Ausländern geführt werden, exotische Küche oder sonst eine Spezialität haben. Die Welt zieht ein unter die Lindenallee von Wieden. Eine brasilianische Tapioca, ein Allergikercafé, ein veganes Lokal, eine kroatische Mini-Eisdiele will es aufnehmen mit dem berühmten Il Giardino, ein junger Vietnamese mit den alteingesessenen Chinesen. Das Neueste ist ein georgisches Restaurant, das mich besonders anzieht. Geworkian, Sohn des Georg, nennt es sich. Im Vorbeigehen lese ich jedes Mal die Speisekarte auf den schwarzen Tafeln, aufgeschrieben mit Kreide in lateinischer Schrift, aber mit geschwungenen Buchstaben, die an die georgischen erinnern. Die Rundungen und Kringel nach oben und unten sind liebevoll ausgemalt, rot und grün, die Landesfarben. Ich finde das einladend und heimelig, weil ich mich ja viel in Georgien aufgehalten habe, in Moskau oft im Restaurant Tiflis zu Gast war und schon lange einige ausgewählte georgische Gerichte nachkoche.

Meine Gäste sind immer begeistert von meinem Lobio, einer frugalen Paste aus roten Bohnen, dem Chatschapuri, dem berühmten Käsebrot, oder dem Sazivi, einem Hühnchen in einer Sauce mit ungefähr dreißig Gewürzen, Butterbergen, Obersflüssen und Tonnen von Walnüssen. Die gefüllten Auberginen Gozinaki gelingen immer, und auch die süße Nachspeise Chinkali kommt gut an, bei denen, die dafür noch Platz haben. Viel Butter, viel Obers, Kräuter ohne Zahl und Namen und Nüsse, Nüsse und noch einmal Nüsse. Kein Gericht ohne Nüsse. Wer von Nüssen schlechte Haut oder Verdauungsprobleme bekommt, sollte vorsichtig sein. Wir hier kennen ja nur den einen oder anderen vereinzelten Nussbaum in einem Garten oder am Wegesrand. Aber wer die Nussbaumwälder auf den unteren Abhängen der Kaukasusberge gesehen hat, die Düfte, die von ihnen ausgehen, gerochen hat, die Wundermeldungen von der Wirkung ihres Schnapses oder Medizinen gehört hat, versteht die Nuss-Vorherrschaft in der georgischen Küche.
Sogar manche Weine schmecken leicht nussig. Nach ihrer Religion und ihrem Wein steht wahrscheinlich die Nuss an dritter Stelle ihrer Identität. Vielleicht gehört die Musik noch davor.

Ich höre mir die Lobeshymnen der Partygäste gerne an und denke mir: Naja, einigermaßen gut, den Rest behalte ich für mich. Nur ich weiß, dass die Gerichte ein ferner Abklatsch der georgischen sind, weil wir hier nicht die aberhundert Kräuter des Kaukasus haben. Einzig mit dem auch bei uns heimischen Koriander kann ich meinen Speisen einen fernen Anklang der georgischen Küche geben.

Wenn Geworkian auch noch die Weine aus Kachetien servierte, müsste das eine Dependance des Himmelreichs auf Erden sein. Obwohl die ausgehängte Speisetafel einladend wirkt, spüre ich eine eigenartige Scheu, das Lokal zu betreten. Ich fühle mich angezogen, trotzdem fürchte ich mich davor, die Schwelle zu übertreten. So luge ich nur durch die Fensterscheibe oder schaue dem Treiben im kleinen Schanigarten unter den Linden zu.
In der winzig kleinen, offenen Küche werkt ein älterer Mann mit graumeliertem Knebelbart und einer hohen, weißen Mütze. Ausgeprägtes Profil, ein Kaukasier, stellt mein schneller Blick fest. Aber warum eigentlich? Kann nicht ein Grieche, Türke, Italiener, Bulgare oder Mazedonier genauso aussehen? Ist mein Blick rassistisch? Hat man nicht in unseliger Zeit von einer „kaukasischen Rasse“ gesprochen?

Der Koch hebt den Blick vom Tisch auf und schaut mich direkt an, offen und klar, aber nicht einladend. Nicht das geringste Anzeichen von Lächeln, nicht in den Mundwinkeln, nicht in den Augen. Sie sind wimpernlos und starr, er scheint nichts zu sehen, irgendwie abwesend und entrückt. Serviert werden die Gerichte in vielen appetitlichen Schüsseln und Schälchen mit den typisch georgischen Blumengirlanden in Rot und Grün von einer jungen Kellnerin, die ihre natürliche Schönheit auf dem Laufsteg oder vor der Kamera zur Geltung bringen könnte. Vielleicht kommt sie von dort und verdient hier nur ihr Taschengeld. Warum gehe ich nicht hinein? Ich habe doch keine Illusion, dass mein Lobio, Chatschapuri und Sazivi auch nur annähernd so schmecken wie im Kaukasus.

Dann will es einmal der Zufall, dass ein Freund mich zum Essen einlädt, und er schlägt eben dieses Lokal vor, weil er in einer Programmzeitung davon gelesen hat. Ausgezeichnet, sensationell, überschwänglich schreibt der Restaurantkritiker, ein absolutes MUST, echt, typisch Kaukasisch. Blödmann, wie kann der denn wissen, was echt und typisch ist? Ich mache noch einen schwachen Versuch, meinen Freund auf den neuen Brasilianer gegenüber umzulenken. Hör auf, wenn etwas brasilianisch heißt, kann es nicht gut sein, denn dort gibt es hundert Küchen. Er hat Jahre in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern gelebt, also werde ich ihm glauben und mich zum Georgier schleppen lassen. Dazu muss ich noch erklären, dass mein Freund früher Koch war und sich für alle Küchen der Welt interessiert.

Ein prachtvoller Maitag, die Linden haben zu blühen begonnen und hüllen die Straße in eine süße Duftwolke. Wie durch ein Wunder kann sie sich gegen die Autoabgase durchsetzen, und die Luft weht in Honigwellen durch die Straße.

Wir lassen uns im Schanigarten unter einem zitronengelben Sonnenschirm mit der lieblichen georgischen Girlandenschrift nieder, und ich erkläre meinem Freund die ihm unbekannten Gerichte. Wir stellen einen Querschnitt durch die kaukasische Küche zusammen und bekommen von der Schönheit ein Dutzend Schälchen auf den Tisch gesetzt. Mein Freund will Bier, es gibt nur heimisches, ich bestelle einen Zinandali, den georgischen Weißwein, den ich dort gern getrunken habe. Angeblich Iossif Wissarionowitsch Dschugaschwilis Lieblingsweißer. Bei uns würde man ihn Gewürzwein nennen, aber er ist von der Natur angereichert durch die vielen Blumen und Kräuter der kaukasischen Erde. Die Georgier rühmen sich ja, dass sie die Erfinder des Weines sind, vor 7000 Jahren, lange vor den Griechen und Römern.

Wahrscheinlich ist es diese spontane Bestellung eines Zinandali, die den Koch auf mich aufmerksam macht. Er verlässt seinen Arbeitsplatz, stellt sich in den Türrahmen und lässt den Blick schweifen, als würde er die Straße rauf- und runterschauen. Ich bemerke aber, dass er mich im Visier hat. Hat er mich wiedererkannt als die seltsame Passantin, die schon oft bei ihm stehen geblieben ist und reingeglotzt hat? Er lässt sich nichts anmerken, sein Blick ist wie immer offen und leer, und so kann ich nur weiterrätseln.
Da mein Freund auch Fotograf ist und nie ohne seinen Rucksack voll mit Kameras auf die Straße geht, bleibt es nicht lange aus, bis er die Schönheit fragt, ob er sie fotografieren darf. Sie schenkt ihm ein strahlendes Lächeln wie die aufgehende Sonne am Kazbek. Sie scheint nicht scheu zu sein und sich ihres blendenden Aussehens bewusst. Sie posiert nicht, sondern arbeitet weiter, geht aus und ein, serviert und räumt ab, bringt Gläser und Schälchen, kassiert, wischt die Tische ab und richtet die Sonnenschirme aus.

Mein Freund ist absolut glücklich, weil er am liebsten Menschen bei ihren natürlichen Tätigkeiten fotografiert, also keine Porträts oder Posen. Man müsste sie eigentlich filmen, denke ich laut, ob man denn die Anmut ihrer Bewegungen in Fotos wiedergeben kann. Na, wart nur, das ist eben die Kunst des Fotografierens, genau das in einem Bild einzufangen. Er hat recht, ich kenne viele Fotos von ihm, die tanzende, kämpfende oder religiösen Ritualen nachgehende Menschen darstellen. Habe einige gerahmt und bei mir aufgehängt.

Als der Koch wieder in die Tür tritt, fragt mein Freund mit Gesten auch ihn um die Fotografiererlaubnis. Der schüttelt leicht, aber bestimmt den Kopf und verschwindet wieder in der Küche.
Oje, fragt mein Freund erschrocken, hab ich was falsch gemacht?
Nein, er dürfte etwas eigen sein, und erzähle ihm von meinen früheren Beobachtungen.
Als wir fast schon aufbrechen wollen, kommt der Wirt mit einem Tablett heraus, auf dem drei Gläser und eine Flasche mit rotem Kindzmarauli stehen. Er hat Schürze und Kochmütze abgelegt und setzt sich ohne Einladung zu uns. Obwohl sein Gesicht in seiner Faltenlosigkeit jung wirkt, hat er schlohweißes Haar, gewellt und hinten zu einem Zopf gebunden. Ein Gespenst.

Darf ich Sie zu einem Glas einladen?
Aber gerne, ich bin überrascht, mein Freund begeistert. Er liebt es, Zufallsbekanntschaften zu machen.
Der Wirt öffnet die Flasche, gießt die drei Gläser voll mit rubinrotem Gefunkel und wendet sich unmittelbar an mich:
Entschuldigung, kann es sein, dass ich Sie schon einmal gesehen habe, früher?
Ja natürlich, ich wohne nebenan und komme oft bei Ihnen vorbei.
Nein, das meine ich nicht, früher, viel früher.
Sein Deutsch hat einen Akzent, ist aber ansonsten nahezu perfekt.
Wie denn, Sie haben doch erst vor einem Jahr hier aufgemacht.
Langes Schweigen mit gesenktem Kopf.
Waren Sie einmal im Kaukasus?
Ja, oft, hauptsächlich in Georgien, aber auch in Armenien, in Jerewan und Umgebung, am Sewansee und …
Ich merke, wie der Mann aufgeregt wird und schwer zu atmen beginnt.
Vielleicht auch in Leninakan? Er haucht es mehr, als dass er den Namen ausspricht.
Ja, auch in Leninakan, im Jänner 1989, kurz nach dem Erdbeben. Ich war beim ORF und …

Jetzt springt der Mann so heftig auf, dass der Stuhl umfällt, und er flüchtet in der Küche.
Oh Gott, was hat ihn so verärgert?
Die aufmerksame Kellnerin eilt herbei und legt den Finger auf die Lippen.
Bitte, nicht davon reden, bitte!
Aber, aber, stottere ich, er hat mich doch selbst danach gefragt …
Ja, aber Le-ni-na-kan nicht aussprechen, das verträgt er nicht.
Soll ich denn leugnen, dass ich als Jounalistin nach dem Erdbeben vom 7. Dezember 1988 mit einer Hilfslieferung mitgeflogen bin und davon berichtet habe.

Auch ich habe das nie vergessen, diese vollkommen zerstörte Stadt, alle Dörfer in einem weiten Umkreis komplett entvölkert und dem Erdboden gleichgemacht, unvorstellbare 25 000 Tote. Jeder fünfte Einwohner.
Die Österreicher hatten Geld gesammelt und mehrere Flugzeugladungen mit Fertigteilhäusern mitgebracht. Rasch wurde ein Modellhaus aufgebaut und eine Tafel darangehängt – Mozartstraße, so soll sie heißen, und in dem Österreich-Dorf werden noch eine Schubert-, Haydn-, Beethoven- und Mahlerstraße folgen. Was ich jemals gedreht habe, vergesse ich nie wieder.
Ein Kinderchor sang für die Gäste ein Lied aus der Zauberflöte, das der drei Knaben. Sie zitterten und hatten blaue Lippen. Es war Jänner, und die Stadt liegt auf 1600 Metern, rundherum verschneite Drei- und Viertausender.
Ein kleines Mädchen überreichte mir einen Blumenstrauß in Plastikfolie. Wo haben sie denn den her in dieser Wüstenei?

Reden wurden gehalten, auf einem schnell gesäuberten, vollkommen leeren Platz, früher einmal der Hauptplatz von Leninakan, flüchtig eingeebnet, an den Rändern die Berge von Ruinen, an einigen Stellen von Planen spärlich verdeckt, überragt von der zerstörten Erlöserkirche. In der strahlenden Wintersonne sieht alles besonders grausig und gespenstisch aus. Ich erinnere mich, wie es mich geschüttelt hat, nicht nur vor Kälte.
Als ich mich von den hiesigen und heimischen Honoratioren absetzen konnte, schlich ich mich hinter eine der Stoffbahnen.
Ich hatte den aberwitzigen Plan, eine Handvoll Erde aufzusammeln und sie für Arnak nach Wien mitzunehmen. Der Mann meiner Freundin J. war Armenier aus der ägyptischen Diaspora, hatte aber nie einen Fuß ins Land seiner Vorfahren gesetzt. Ich wollte eine Vase kaufen und sie anfüllen. Dabei wusste ich, dass das ein Sakrileg war. Kein Mensch durfte auch nur ein Krümel von armenischem Land entfernen, im Gegenteil, jeder Besucher sollte ein Säckchen Erde mitbringen, um es zu vermehren.

In armenischen Häusern werden die Schuhsohlen abgebürstet, der Staub und die Krumen aufgesammelt und ausgestreut.
Ich hatte mich niedergehockt, um schnell etwas Erde zusammenzukratzen, da stand plötzlich ein kleiner Junge vor mir und schaute mich mit großen Augen an. Er war vielleicht zehn Jahre alt, hatte aber schlohweisses Haar, das einen Greis aus ihm machte, ein Gespenst in Bubengestalt. Ich hatte meine Manteltasche schon mit Erde angefüllt und lief unter seinen stummen Blicken schnell wieder zu meinem Team zurück.
Die Bilder standen wieder vor mir, als sei es gestern gewesen. Ich kann nichts machen, mein Hirn ist so gebaut. Schnell stürze ich das Glas Kindzmarauli hinunter und will meinen Freund aus dem Lokal ziehen.

Da kommt der Wirt zurück und entschuldigt sich.
Ich brauchte ein Glas Wasser, heiß heute.
Ich sehe aber, dass er nicht nur Wasser getrunken, sondern sein Gesicht, Hals und Nacken bewässert hat.
Er setzt sich wieder zu uns, gießt noch eine Runde ein und beginnt stockend zu erzählen.
Er hat ins Russische gewechselt.
Ich war drei Tage und drei Nächte verschüttet, in unserem Haus in Leninakan.
Man hatte schon aufgehört zu suchen. Alles war so zerstört, dass man keine Überlebenden mehr unter den Trümmern vermutete. Aber ich wurde doch noch gerettet, unser Hund hat mich erschnüffelt. In dieser Zeit sind meine Haare weiß geworden und ich konnte nicht mehr sprechen.
Meine ganze Familie ist umgekommen, zwei Schwestern, die Eltern und Großeltern. Ich kam zu den anderen Großeltern nach Tbilisi, dort bin ich aufgewachsen und habe den Schulabschluss gemacht. Zuerst haben sie mich zu einem Schuster gesteckt, da muss man nicht sprechen.

Nach zwei Jahren bin ich ausgewandert, zuerst nach Deutschland, und dann hab ich mir ganz Europa angeschaut. Ich hab nicht Koch gelernt, aber mir alles von meiner Großmutter abgeschaut. Kochen kann man wie Schustern, auch ohne zu sprechen. Jetzt bin ich schon zehn Jahre in Österreich, in Wien, hab immer irgendwo gekocht, das ist mein erstes eigenes Lokal, im Freihausviertel, um die Ecke der Mozartbrunnen und das Papagenohaus. Das ist mir wichtig. Ja, und die Linden, die auch. Wie in Tbilisi.
Er senkt den Blick zu Boden und fährt sich über die Augen.
Und die deutsche Sprache, Sie sind ja perfekt!
Neinnein, wehrt er ab, wieder auf Deutsch.
Wissen Sie, ich habe viele Jahre immer nur zugehört. Wenn man selbst nicht spricht, kann man alles besser speichern.

Noch einmal geht er zurück ins Lokal und kommt mit einer Flasche Ararat Nr. 7 zurück.
Der beste Cognac der Welt, den müssen Sie probieren.
Die bauchige Flasche mit den sieben Medaillen der Pariser Weltausstellung von 1913.
Oh, Gott, und das am frühen Nachmittag!
Widerspruch ist zwecklos, der kaukasischen Gastfreundschaft kann man nicht entrinnen.
Mein Freund, ein Kenner und Genießer, ist im siebten Himmel.

Einmal hab ich im Theater an der Wien die Zauberflöte angehört, und bei der Arie mit den drei Knaben habe ich plötzlich mitzusingen angefangen. Die Leute rundherum haben mich angestarrt und pschschtt gezischt, aber das war mir wurscht, ich habe geweint. Da war der Bann gebrochen, eine Erlösung, seither kann ich wieder sprechen. Das Einzige, was mir von Leninakan geblieben ist, ich kann meine Augen nicht mehr schließen.

Wien, Pfingstsonntag, 20. Mai 2018

Veronika Seyr
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