Alfred Schnittke und die Ziehharmonika

Präludio in memoriam

Als der russisch-deutsche Komponist Alfred Schnittke Anfang August 1998 starb, hatte ich gerade erst meinen Posten in Moskau angetreten. Die österreichische Botschaft entsandte mich in meiner Funktion als Kulturrätin zur offiziellen Trauerzeremonie ins Konservatorium. Für mich sollte das mein erster derartiger Auftritt als Repräsentantin der Republik sein, und ich war leicht nervös, war doch meine Beziehung zu diesem Komponisten mehr als lose.

Am Vorabend nahm ich mir in aller Eile die wenigen CDs in meinem Besitz vor, die ich bis dahin nicht einmal geöffnet hatte, durchflog die Klappentexte mit Kurzbiografien und Werkverzeichnissen.

Eigentlich war ich zu keiner Rede eingeladen, aber man konnte bei den Russen nie sicher sein, ob sie einen offiziellen Vertreter nicht spontan auf die Bühne holen würden. Und ich wusste schon, dass die Russen die besten Rhetoriker waren, die immer die schönsten Worte des Lobes, des Dankes und der Verehrung fanden, sei es bei Geburtstagen mit den unendlichen Toasts, den tosti, bei Preisverleihungen, Hochzeiten, Taufen oder Begräbnissen. Sie verstehen es, die wie auch immer Ausgezeichneten mit edlen Kaskaden zu übergießen, mit gedrechselten, gefühlstriefenden Sätzen, scheinbar immer spontan, immer das Wesen des Menschen treffend, nie aufgesetzt, nie gestottert oder vom Zettel gelesen. Eine bewundernswürdige, aber gefährliche Eigenschaft, weil sie uns untalentierte Westler damit einschüchtern und beschämen, auch wenn die gleiche Lobesflut von uns gar nicht erwartet wird.

Schon auf der Alexander-Herzen-Straße vor dem Konservatorium herrscht an diesem August-Vormittag ein dichtes Gedränge, als sei eine Demonstration im Gange. Viele Menschen sprechen mich an, betteln und flehen, sie wollen eine Eintrittskarte ergattern, sie sind in Trauerkleidern und tragen Blumen mit sich. Im Großen Saal empfinde ich die Menschenansammlung als lebensbedrohlich, obwohl ich sofort zur ersten, für Promis reservierten Reihe geleitet werde.

Der offene Sarg ist vor der Orchesterbühne aufgebaut wie ein Altar, die Blumengebirge ragen jetzt schon zwei Meter hoch darüber auf, in der mit vielfach gerafftem Satin ausgeschlagenen Edelholzkiste ist der Tote bis zur Brust zu sehen, zu Kopf liegen die schuppigen Plastikkränze mit Schleifen, Bändern und Sprüchen der Staatsvertreter. Schnittkes langes Haar ist sorgfältig über Stirn und Wangen gelegt, das Gesicht ist bleich, aber scheint doch nur in tiefem Schlaf versunken.

Die Bühne füllen ein Chor und ein Orchester, von den Seitenwänden schauen Bach und Mozart, Beethoven und Tschaikowski mit strengen Augen aus ihren stuckumflorten Konterfeis auf das halblaute Gewurle herunter. Musikstücke aus Schnittkes reichem Werk werden von Reden abgewechselt: aus seinem „Peer Gynt“, aus der Filmmusik zu „Meister und Margarita“ und aus den „Liedern vom Krieg und Frieden“, dazwischen die Ansprachen von Freunden und Musikerkollegen würdig und persönlich, die von Kulturfunktionären lobhudelnd und endlos scheinend. Nur die engsten Freunde umringen den Sarg in einer Ehrenwache. Viele Besucher in den Sitzreihen werden vom Weinen geschüttelt, als wären sie es, die einen Freund und Verwandten verloren haben.

Der große Moment für die Trauernden kam aber erst, als die vorderen Seitentüren aufgingen und die Menschen in dicht gedrängten Schlagen von links nach rechts an dem Sarg vorbei defilieren durften. Man hatte das Konservatorium offenbar nun auch für die Menschen von der Straße geöffnet, in den seitlichen Wandelgängen, in den Nebensälen, in den Stiegenhäusern, Garderoben, Kassen- und Eingangshallen standen die Menschen in dichten Wolken bis auf den Platz hinaus mit dem Tschaikowski-Denkmal. Menschen jeden Alters, dabei auffällig viele Jugendliche und viele schlecht gekleidete und schlecht ernährte Pensionisten, bei denen es oft nur zu einer einzigen roten Nelke gereicht hatte.

Die öffentliche Trauer, das ungehemmte Weinen, das Ausrufen von Klagelauten, Seufzen, Stöhnen und ekstatische Schluchzen – der Große Saal des Tschaikowskij-Konservatoriums hallte davon wider. Jeder schien einen großen Verlust erlitten zu haben, jeder wollte sich persönlich verabschieden. Beim Sarg angekommen, streichelten sie die Wangen des Leichnams, küssten ihn ungehemmt auf den Mund, warfen sich über den offenen Sarg, verweilten kurz mit dem Gesicht auf seiner Brust, steckten ihm ihre Blumen zwischen die gefalteten Hände und beschmusten das schwarz drapierte Fotoporträt auf den Altarstufen wie eine Ikone, bis die Nachrückenden kräftig weiterdrängten. Aber jedem wurde doch seine kurze Trauerzeit gegönnt, auch wenn die Russen ansonsten, obwohl geübt, miserable Schlangensteher sind.

Vom Balkan und von griechischen Inseldörfern waren mir die Klageweiber nicht unbekannt, aber mitten in der modernen, aufgeklärten Mega-City Moskau gerann mir dabei das Blut in den Adern und die Gedärme rebellierten. Nach dem Glauben der orthodoxen Welt verlässt die Seele nicht sofort den Toten, sondern bleibt noch vierzig Tage zwischen Himmel und Erde, in der Aura zwischen dem Verblichenen und den Hinterbliebenen. Die Seele kann noch empfänglich sein für die über dem Grab ausgeschütteten Liebesbeweise, Tränen und Klagen. Der Tod ist noch nicht endgültig, und in dieser Hoffnung lassen sich die Trauernden zu Exaltationen hinreißen. Wenn zuerst Scheu und Entsetzen über diese für mich typisch sowjetische Eigenschaft der Idolisierung überwogen, war doch der Anblick des Rituals unsagbar bewegend und traurig. Vielleicht auch tröstlicher als die nüchterne, nach innen gewandte Trauerarbeit im Westen.

Rätselhaft blieb mir aber bis heute, warum gerade Alfred Schnittke, nach sowjetisch/russischem Standard in jeder Hinsicht ein Hybrid, zu dieser Ehre kam: als Abkömmling eines Deutschen und einer Wolga-Deutschen, ein (1993 in Lockenhaus) zum Katholizismus übergetretener Orthodoxer mit jüdischen Wurzeln, früh als Komponist einer „musica non grata“ abgestempelt und schließlich auch noch ein Republiksflüchtling, der es nie in den Kanon des sowjetischen Massengeschmacks gebracht hat. Die einfühlsamste und plausibelste Erklärung war, dass Russen nun mal gerne trauerten und dies so gut können. Und auch feiern: Sein Freund und Mentor über dreißig Jahre, Gidon Kremer, verabschiedete sich von ihm „mit einem sich in der totalen Einsamkeit auflösenden Solotango von Astor Piazzolla“ [1], bei dem auch ich meine Tränen im rot-weiß-roten Blumenstrauß verstecken musste.

Wie hätte dieses Klagekonzert rund um seinen Leichnam wohl in Schnittkes Ohren geklungen? Oder hat er dergleichen vielleicht schon gehört und dann sein Oratorium „Dies irae“ geschrieben? Oder in die „12 Bußpsalmen“, die „Agonie“ oder seinen „St. Florian“ für Anton Bruckner eingeflochten?
Wenn ich etwas beizutragen gehabt hätte, wäre es vielleicht eine kleine Wiener Melodie auf einer Ziehharmonika gewesen, das Instrument, das ihn am meisten mit Wien verbindet.

Der 1934 in der Wolga-Kleinstadt Engels geborene Schnittke kam 1946 mit seiner Familie nach Wien. Sein Vater Harry Schnittke, ein aus Frankfurt stammender Kommunist, war als Lokalreporter zur „Österreichischen Zeitung“ berufen worden, einem von der sowjetischen Besatzungsmacht herausgegebenen Organ. Die Familie – Mutter und zwei Geschwister – wohnte von 1946 bis 1948 im 4. Stock der Singerstraße 27, einer arisierten Großbürgerwohnung, die bis vor Kurzem Parteigenosse Puppini bewohnt hatte.

Alfred erinnert sich, dass aus einer Mansarde über ihnen immer Klavierspiel zu hören war und wie ihn die Vorstellung beglückte, dass das Mozart sei, der über seinem Kopf komponierte und übte. Einmal traf er auf der Treppe mit einer etwa 36jährigen Frau zusammen, schlank, dunkle Augen, schwarzes Haar, ein zartes, scheues Wesen, immer allein. Was für eine Enttäuschung, nicht WAM spielte Klavier, sondern das Fräulein Charlotte Ruber, bei der der musikalische Alfred später den ersten Unterricht bekam. 37 Jahre später wird sie noch erleben, wie ihr ehemaliger Schüler in Wien die ersten Triumphe feiert. Auf einem nostalgischen Streifzug durch die Singerstraße kommt er auch an jenem Gasthaus vorbei, in dem er immer für seinen Vater einen Krug Sturm kaufen muss. Er entdeckt mit Freuden vor der Tür ein Schild, das besagt, dass Franz Schubert hier zu den Stammkunden gezählt habe. Den grünen Fayence-Krug hatte Schnittke in seiner Moskauer Wohnung stehen und zeigte ihn gerne seinen Gästen: Daraus habe er seinen Wiener Schubert-Sturm getrunken und den ersten Rausch bekommen.

Wien war für den Zwölfjährigen aus dem Provinznest Engels von der mittleren Wolga mit seinen wenigen Straßenzügen aus primitiven Holzhütten eine neue Welt voller Musik, das Himmelreich auf Erden. Noch dazu war das Leben im Krieg von äußerster Armut geprägt. Die erste Orgel hörte er, als er an einem Sonntagvormittag mit seinem jüngeren Bruder Viktor aus der Singerstraße spazierte und über die Seilerstätte und die Weihburggasse streunte. Als er um die Ecke bog, hörte er die Orgel aus den offenen Türen der Franziskanerkirche, das Brausen einer nie gehörten Musik überwältigte seine Scheu und zog ihn hinein. Ein einsamer Priester vor dem Altar, im Halbdunkel der Kerzen einige Besucher und über dem Eingang vom Chor dieses Dröhnen und Wogen – das war also ein katholisches Gotteshaus. Fremd und berauschend, eine Initiation für den Sowjetjungen, der noch nie in einer Kirche gewesen war.

Um die Macht der Musik über die Menschen zu illustrieren, erzählte Alfred gerne die Geschichte von Stalin und Mozarts Klavierkonzert für b-Moll, K 466. [2]
Eines Tages wünschte Stalin, dieses Konzert zu hören. Er kannte weder den Namen noch die Nummer, aber Gott weiß wie fanden seine Untergebenen heraus, worum es sich handelte. Da stellte sich heraus, dass es in der Sowjetunion keine Einspielung dieses Konzertes gab. Die Antwort des Untergebenen lautete natürlich: „Wird gemacht, Genosse Vorsitzender!“

Die Befehlsempfänger vom NCHWD eilten davon, um den Wunsch des „Väterchens aller Völker“ zu erfüllen, aber es gab nirgends eine Platte. Sie erfuhren, dass die berühmte Pianistin Marija Judina dieses Konzert spielte. Sie trommelten ein Orchester zusammen, und die Judina durfte sich sogar einen Dirigenten aussuchen. Alle wurden in einem Studio zusammengebracht und eine nächtliche Plattenaufnahme organisiert. In den frühen Morgenstunden war die Platte in einem einzigen Exemplar produziert. Stalin konnte sich nun, sooft er wollte, der unsterblichen Musik Mozarts hingeben. Er ließ der Pianistin einige tausend Rubel auszahlen. Er bekam von ihr einen Brief, in dem Judina ihm für die erwiesene Ehre dankte, das Geld aber lehnte sie ab und bat darum, es für den Wiederaufbau von Kirchen auszugeben, die im Wahn der atheistischen Hysterie zerstört worden waren. Sie werde für Iossif Wissarionowitsch beten, damit ihm seine Sünden vergeben werden.

Marija Judina war nicht nur eine ausgezeichnete Pianistin und Professorin der klassischen Moskauer Schule, sondern auch eine sehr mutige Frau. Die vom Judaismus zur Orthodoxie übergetretene Judina war ein praktizierendes und bekennendes Mitglied der Russisch-orthodoxen Kirche. Sie wagte es, dem Diktator die Stirn zu bieten. Der Geheimdienstmann, der Stalin diesen Brief überbrachte, hatte schon den Befehl bei sich, Marija Judina zu liquidieren. Das war etwas voreilig, denn Stalin liebte es, auf das Zynischste mit seinen Opfern zu spielen. Nach der zweiten Verhaftung von Josif Mandelstamm – er starb kurz danach auf einem Transport in den Gulag – rief Stalin persönlich bei Boris Pasternak an und beschwerte sich darüber, dass dieser sich zu wenig für seinen Freund Mandelstamm eingesetzt habe. Aber er ließ Pasternak, Bulgakow und Schostakowitsch am Leben. Nur fanden sie zu seinen Lebzeiten nie wieder Ruhe und lebten in ständiger Panik. Ihn amüsierte der Brief von Judina, sie kam mit dem Leben davon, öffentliche Auftritte wurden ihr aber verboten. Ab da galt sie als Stalins Lieblingspianistin. Als Stalin am 5. März 1953 starb, fand man in seinem Arbeitszimmer ebenjene Schallplatte, die 1935 in der Nacht als Sonderbestellung aufgenommen worden war.

Eines Tages brachte der Vater Harry eine Ziehharmonika nach Hause, eine kleine, einfache Hohner mit nur 24 Bässen. Alfred brachte sich das Spiel selbst bei, es gab nichts, was er nicht nachspielte: russische Lieder, die Schnulzen der frühen Nachkriegszeit, Wiener Walzer und englische Hits. Er spielte alles, was er hörte und alles flog ihm zu:
„Mariandl, -andl, -andl, du hast mein Herz am Bandl, Bandl, und lasst es net los“, oder „Bella, bella Donna, Marie, bleib mir treu“, oder „What a beautiful girl“, die Straßenmusikanten vom Graben an der Pestsäule, gleich daneben im OP-Kino die ersten amerikanischen Filme und Wochenschauen und der Zirkus Rebernigg auf den unbebauten Scala-Gründen in Favoriten.

Und da waren noch viel mehr Lieder, die der junge Schnittke im sowjetischen Offiziersclub in der Hofburg oder in der sowjetischen Schule auf der Prinz-Eugen-Straße hörte: „Mein russisch Mutterland, so hold, so wunderschön, des Herzens Freud, mein trautes Heim“. Auch von blühenden Gärten und wogenden Feldern wurde gesungen, von der großen Freiheit Russlands und vom ewigen Sieg. Er liebte damals Josef Wissarion Stalin – Onkel Pepi, wie man ihn in den Wiener KP-Kreisen zu nennen pflegte – genau so wie den Wolferl, den er sich in die Mansarde über seinem Kopf hineinträumte.
So wurde Schnittke sehr früh mit zwei widersprüchlichen Welten konfrontiert und blieb beiden treu.
Als im Jahre 1948 die sowjetische Schule schloss, übersiedelten die Schnittkes wieder nach Moskau, wo Alfred seine klassische Musikausbildung aufnahm.

Der Vater Harry hat nie etwas mit Musik im Sinne gehabt, das Akkordeon hatte er als Prämie von der Redaktion der „ÖZ“ im Globus-Verlag geschenkt bekommen. Wem von seinen Vorgesetzten oder Kollegen war es wohl eingefallen, ihn auf diese Weise auszuzeichnen? Und wer wagt schon zu behaupten, dass ohne diese kleine Hohner Alfred Schnittke kein Komponist geworden wäre?

[1] Gidon Kremer: „Zwischen Welten“, Piper Verlag, S. 328
[2] Die Zitate basieren auf den Erinnerungen des Bruders Viktor Schnittke, mir mündlich erzählt.

4.4.2008

Veronika Seyr
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Ersterscheinen in der Märzausgabe 2004 von „Literatur und Kritik“

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