Paschkas Aktentasche

Was ging mit mir vor an diesem 24. Dezember 1971, als ich beschloss, den Weihnachtsgottesdienst in der amerikanischen Botschaft zu besuchen. Ich kenne kein Heimweh, bildete ich mir ein. Es war keine Idee, nicht im Bereich eines klar gefassten Gedankens oder Beschlusses, sondern eine vage Sehnsucht, ein Ziehen in der Herzgegend. Nebulöses Erinnern an Nadelduft, die typische Mischung aus Adventkranz, Punsch, Keksen, Kerzen und Weihrauch. Dazu Weihnachtslieder, Flöten und Orgelspiel im Kreis der Familie.
Heiße Bilder schwappten über mich, gemildert von der Moskauer Dunkelheit, dem Frost und dem Schnee.

Dabei war ich damals schon lange nicht mehr Kirchenmitglied und hatte mich auch innerlich weit von der Familienreligion mit ihren Traditionen entfernt. Dachte ich. Der Zauber des 24. Dezembers, des Heiligen Abends, ist einem offenbar tiefer in die Seele eingesenkt worden, als man zugeben möchte. Nicht zum Loswerden. Überfälle hinterrücks. Ein Tiefenlot hängt noch immer ins Unermessliche. Sentimentalität nennt man das, unbezwingbar wie eine DNA.
Dazu kam noch: Wenn man in einem Land lebte, dem der 24. Dezember, der Heilige Abend, nichts bedeutet, den es gar nicht gibt und nirgendwo sichtbare Anzeichen dafür zu sehen sind, an dem das Leben wie gewöhnlich weiterfließt, grau, ordinär und banal. Als Kind hatte ich immer das Gefühl, dass am 24. Dezember die Welt stillsteht und den Atem anhält – eine Heilige Nacht eben.

Mit dem schwachen, lächerlichen Ersatz der sowjetischen Figuren von Väterchen Frost und Snegurotschka, dem Schneeflöckchen, zu Silvester habe ich mich nie anfreunden können, schon nicht zu Weihnacht 1954 im Stadtsaal von Tulln, als die sowjetischen Besatzungstruppen ihr Neujahrsfest für die befreite Bevölkerung abzogen. Was sich in der Stadtpfarrkirche St. Stephans abspielte, war so viel schöner.

Aber was, um Himmels Willen, hat mich dazu gebracht, mich von meinem Freund Paschka zur Botschaft begleiten zu lassen? Weil wir, so gut es ging, alles gemeinsam machten, uns nicht trennen konnten, wollten? Nach dem Kreml gab es wahrscheinlich in ganz Moskau keinen Ort, der schwerer bewacht war als die amerikanische Botschaft am Gartenring. Vielleicht sogar noch mehr, denn innen hatten die Amerikaner ihre Regimenter, draußen der KGB. Als Mitarbeiterin der österreichischen Botschaft mit Diplomatenpass wurde ich zwar doppelt kontrolliert, durfte aber passieren und an der Weihnachtsfeier teilnehmen. Katholiken aus aller Herren Länder des Westens sollten die Gelegenheit haben, sich ihre nostalgischen Weihnachtsehnsüchte zu erfüllen.

Ich erinnere mich sogar an meine Enttäuschung, weil die Amerikaner in ihrer kleinen Kapelle den Heiligen Abend natürlich nicht so feierten, wie ich es von zu Hause in Erinnerung hatte. Eine stattliche, aber kitschig geschmückte Fichte mit flackernden elektrischen Girlanden, jede Menge Santa Clauses, rot-weiße Strickstrümpfe und lächerliche Mützchen, anstatt Tannenzweigen die hässlichen Stechpalmen, anstatt einer feierlichen Orgel ein elektrisches Harmonium, verstimmt quietschend. Dazu ertönten natürlich auch nicht unsere schönen Weihnachtlieder – Vom Himmel hoch, In dulci jubiloo, Es wird scho glei dumpa, Leise rieselt der Schnee, Maria durch ein Dornwald ging, Ihr Kinderlein kommet – sondern die Ohrwürmer aus den amerikanischen Kaufhauslautsprechern: Jingle Bells, Merry Christmas, grüner Tannenbaum auf Englisch, Silent night. Bei Rudolph, the rednosed reindeer reichte es mir, und ich verließ die Veranstaltung, verzichtete auf Weihnachtsumarmungen, cookies und Punsch.

Draußen auf dem Gartenring war es vollkommen dunkel und menschenleer. Die vermummten Milizionäre in ihren dicken Mänteln waren die einzigen Gestalten weit und breit. Sie sahen nicht wie Menschen aus, sondern wie aufrecht taumelnde Bären. Keine Spur von Paschka. Ich wollte eigentlich beim Ausgang auf ihn warten, wurde aber von den Vertretern der Sowjetmacht grob weggescheucht. Also fuhr ich allein nach Hause und wartete auf meinen Freund. Natürlich hatte ich in meiner Wohnung ein echtes Weihnachtsfest vorbereitet, mit allen Ingredienzien, soweit sie in diesem Land, das Weihnachten nicht feiert, überhaupt zu bekommen waren.
Am letzten Adventsonntag waren Paschka und ich abends mit der Metro weit hinaus nach Kolomenkoje gefahren und hatten in einem Wäldchen eine kleine Fichte geklaut. Das Umsägen war ein Kinderspiel, der Transport gestaltete sich aber schwierig. Niemand konnte in diesen Tagen unbemerkt einen Christbaum in der Metro transportieren. Es gab ja keine zu kaufen, und die aus Plastik für den Neujahrs-Baum, die Jolka, gab es erst wenige Tage vor dem Fest. Also mussten wir zuerst weit durch die dunklen Vorstädte marschieren – Paschka die mickrige Fichte unter dem Mantel – bis wir weiter gegen das Zentrum zu einen Moskwitsch aufhielten, ein schwarzes Taxi, und mit Glück vorbei an dem Milizionär ins Haus schlüpfen konnten.

Paschkas Mantel ist eine eigene Erzählung wert. Damit wir überhaupt gemeinsam auftreten konnten, hatte ich ihn von Anfang an mit westlicher Kleidung ausgestattet. Mein Bruder Bernhard, der mit Paschka schon Jahre befreundet war, hatte im Kaufhaus Frank in Tulln einen Großeinkauf getätigt, Herrenbekleidung für alle Jahreszeiten und Lebenslagen. Das Riesenpaket konnte ich über die Diplomatenpost empfangen.
Ohne seine Verkleidung als Westler hätten wir gemeinsam keinen Schritt unbehelligt auf der Straße machen können.
Allerdings habe auch ich mich manchmal umgekehrt verkleidet. Auf einer heimlichen Reise in die für Ausländer gesperrte Westukraine, nach Lemberg und Tschernowitz, trug ich Kleider und Kopftuch seiner Mutter, um als russische Bäuerin durchzugehen, er blieb diesmal bei seinem original sowjetischen Stil.

Auch Kekse, Kerzen und Christbaumschmuck hatte ich mir von zu Hause schicken lassen und einige Köstlichkeiten im Devisenladen Berjoska eingekauft: finnischen Rentierschinken, französischen Käse, deutsche Würstchen und Hähnchen, Riesling aus Österreich, russischen Beluga-Kaviar, und suchoje krimskoje schampankoje.
Ich hatte gebackenen Karpfen mit Majonnaise-Erdäpfelsalat zubereitet. Alles zusammen mit Kerzen und Keksen duftete wirklich weihnachtlich. Nur die Fichte machte noch zuletzt Probleme. Ich hatte vergessen, zu Hause einen Ständer zu ordern, und im sandgefüllten Kübel wollte sie nicht aufrecht stehen. Auf einem schrägen Baum kann man keine Kerzen anzünden. Es war halt doch kein echter Christbaum, noch dazu geklaut. Ich machte ihn mit Mühe mit Spagatschnüren an den Möbeln fest und er sah damit  noch jämmerlicher aus.

Dabei sollte es nach Möglichkeit ein echter Heiliger Abend werden, fast wie zu Hause.
Wahrscheinlich sah ich dem Bäumchen nicht unähnlich aus. Ich saß fünf Stunden allein da und spielte unter Tränen die Weihnachtspassion, Dies irae und Deutsches Requiem am Plattenteller auf und ab. Heute Nacht wollte ich nichts Russisches hören. Eigentlich horchten meine Ohren aber mehr ins Stiegenhaus hinaus, ob der Lift bei mir im 7. Stock hielt. Er ratterte, quietschte und pfauchte wie immer, fuhr aber vorbei. Wie sehr ich sonst dieses Produkt der sowjetischen Ingenieurskunst hasste, heute sehnte ich jetzt den lauten Krach und das Erdbeben herbei, mit dem er sonst stoppte.

Im letzten, dem 9. Stock ratterte er wie ein Maschinengewehr von W.W. Kalaschnikow, und unten im Erdgeschoss konnte ich ihn noch hören, wie er zornig aufstampfte, dass er nicht in den Keller fahren durfte. Diese Geräusche musste auch Schostakowitsch in den Ohren gehabt haben, als er seine 7., die „Leningrader“, komponierte, also klangen auch in St. Petersburg, Petrograd und Leninburg, wie er seine Stadt nannte, die Lifte ähnlich, dazu noch einige Fis-Töne von den Fabriksirenen und das Stampfen der Lokomotiven am Finnländischen Bahnhof, wo er als Zehnjähriger Lenin gesehen haben will, als der aus dem gepanzerten Zug der Deutschen stieg, um auf einem Heuhaufen – wo kam der eigentlich her, Pferdefutter? – seine April-Thesen vorzutragen.

Paschka kam erst spät in der Nacht zurück, rollte gleich an der Tür wild mit den Augen und hielt den Finger vor den Mund. Nicht sprechen! Ich legte sofort einen Leonard Cohen auf. Wir brauchten noch eine Platte mit Chopins Nocturnes und Impromptues, die Vier Jahreszeiten und zweimal den Sergeant Pepper, bis Paschka die Geschichte seiner letzten fünf Stunden erzählt hatte.
Anfangs konnte er gar nicht sprechen und zitterte so sehr, dass er seine Kasbek nicht anzünden konnte und den Krimsekt verschüttete. Kognak war jetzt besser. Sein Magen war für meine vorbereiteten Köstlichkeiten nicht bereit, ganz im Gegenteil, immer wieder suchte er die Toilette auf. Angst geht immer zuerst in die Hose. Vor Stalins Kabinett standen neben den KGB-lern immer auch zwei kräftige Sanitäter, die die beim Diktator Vorgeladenen und wieder Entlassenen schnell in einen Nebenraum zogen, sie abspritzten und mit einer sauberen Hose neu einkleideten. Das ist Fakt, weil einige Überlebende dies nach dem Tod des Diktators freiwillig erzählten.

Was war passiert? Als ich in der Botschaft verschwunden war, wurde er sofort von den Milizionären festgehalten und auf eine Wache gebracht. Aber nicht auf die nächste der Miliz, sondern in einem Auto zu einer Stelle des KGB. Wo, konnte er nicht sagen, üblicherweise in die Ljublanka, weil der Niva verdunkelte und vergitterte Fenster hatte und er draußen nichts sehen konnte. Sie haben ihn so lange verhört, bis beide Seiten nicht mehr konnten. Die KGB-ler rauchten ihre Schachteln Belomor, Paschka hatte seine Kasbek. Sie fanden nichts Verdächtiges an ihm, außer dass es einem Sowjetbürger nicht erlaubt war, sich so nahe an der amerikanischen Botschaft aufzuhalten. Aber das war nur eine Übertretung. Dafür, dass er mit der Vertreterin des kapitalistischen, imperialistischen Westens befreundet war, bekam er eine Rüge. Alle sind Spione, und er sollte sich nicht in Versuchung bringen, ein Vaterlandsverräter zu werden. Als ehemaliger Rekrut war er aber immer noch in der Armeereserve und sollte solche Kontakte besser unterlassen.

Paschka hatten sie aber doch so sehr verängstigt, dass er mir erst lange später das eigentlich Dramatische dieses Abends gestand. Als wir zur Botschaft gingen, hatte er seine Aktentasche, die portfelj, bei sich. Er kam von der Uni, also nichts Ungewöhnliches, wahrscheinlich waren Bücher und Mappen, Hefte und Bleistifte drin. Im Auto der Miliz war es ihm gelungen, diese Aktentasche unter den Vordersitz zu schieben, sodass er beim Verhör ganz ohne Gepäck war. Es befanden sich auch in der Aktentasche keine Uni-Utensilien, sondern sie war vollgestopft mit der frisch gedruckten letzten Samizdat-Ausgabe. Wir hatten sie vor einiger Zeit in der Wohnung von Freunden abgezogen: Texte von Daniil Charms, Michail Bulgakow und Sergej Dowlatow, einige Filmkritiken von westlichen und verbotenen sowjetischen Filmen, Personennachrichten von in Psychiatrien inhaftierten Intellektuellen und Künstlern, Texte und Gedichte von ihnen, Informationen aus dem feindlichen Ausland und von Bürgerrechtlern aus den Bruderländern.

Sprengstoff, brennheiße Ware, wenn sie sie gefunden hätten. Unter Breshnew kam man 1971 dafür nicht mehr in den Gulag, aber Relegierung von der Uni und Verbannung aus der Hauptstadt mit Sicherheit, nie mehr einen akademischen Beruf, Folgen für die Familie bis ins letzte Glied, in die Psychiatrie oder ins Arbeitslager mit großer Wahrscheinlichkeit.
Vorerst war nichts Schlimmeres passiert, als dass ihm die KGB-ler Wintermantel und Sakko abgenommen hatten. Wenn die gewusst hätten, dass darin vor Kurzem etwas so Gefährliches wie eine jolotschka, ein Christbaum, transportiert worden war!

Was mir Paschka erst bei einem Wiedersehen Jahre später beichtete, war, dass er lange vom KGB verfolgt wurde, immer wieder vorgeladen und befragt, immer wieder konfrontiert mit einem Papier, das ihn zur Zusammenarbeit einlud. Er hatte ja gute Kontakte in die Uni und in die Diplomatie.
Aber sie hatten ihm nie nachweisen können, dass die Aktentasche ihm gehörte.

Vielleicht waren es die Engelschöre der Weihnachtspassion oder Rudolph, das Rentier, die es ihm zehn Jahre später möglich machten, eine andere Österreicherin in Moskau zu heiraten und mit ihr in ihre Heimat auszuwandern. Ich war ja nach dieser unheiligen Nacht ungeplant schnell nach Österreich zurückgegangen, das heißt geflüchtet. Weniger vor dem KGB, der tat mir ja nichts, mehr vor Paschkas Dringlichkeit.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann lebt er noch heute mit vier Kindern, zwei Enkelkindern und seiner Frau in der Idylle des oberösterreichischen Städtchens Freistadt.

12. Juli 17

Veronika Seyr
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