Ich bin peinlich rein

Ich bin achtundvierzig Jahre alt und Semiakademiker, was impliziert, dass ich mein Studium der Ausbreitungswissenschaften an der Staatlichen Schwarzrussischen Universität nicht zur Gänze, vielmehr zur Hälfte abgeschlossen habe, um präzise zu sein, ich lege nämlich Wert auf Präzision, studierte ich die Ausbreitung der Schwarzrussischen Blaufelleber, eine, wie ich fürwahr sagen darf, grässliche, weil überaus gefährliche Spezies, sowohl für Menschen als auch für Tiere, deren Gebiet, also das der Ausbreitung dieser grässlichen Bestien, sich stetig erweitert; während ich diese Zeilen zu Papier bringe, kann es gut sein, und ich bin mir beinahe sicher, dass es sich bezüglich der Ausbreitung so verhält, dass es größer wird.
Aus diesem Grund darf ich mich bloß D. Sascha Smirnovskaya nennen, und nicht Dr. Sascha Smirnovskaya, aber dies sei bloß nebenbei erwähnt.

Der Schwarzrussische Blaufelleber sieht aus wie ein gewöhnliches Wildschwein mit hellblauen Borsten, doch ist er weitaus gefährlicher, denn die ihm innewohnende naturgegebene, also prinzipielle, Angriffslust lässt das Tier in Harnisch geraten, sobald es anderer Lebewesen, also auch Menschen ansichtig wird (es gibt Erzählungen, allerdings stammen diese von in ruralen Gegenden domizilierten Menschen – aus diesem Grund halte ich sie für frei erfunden -, dass diese Tiere selbst beim Anblick von Blumen und jungen Bäumen in Harnisch geraten). Dann gebärdet sich der Schwarzrussische Blaufelleber in der Tat grässlich, dann meint er es ernst, todernst.

In achtzig Prozent der dokumentierten Fälle mit menschlichen Verlusten, also in welchen Menschen zu Tode kamen, konnte die Identität der Menschen lediglich vermittels DNA-Abgleich ermittelt werden, denn Schwarzrussische Blaufelleber pflegen ihre Opfer, aus der Sicht der Tiere dürfte es sich um Beute handeln, zur Gänze aufzufressen (bis auf das Gelenk des linken Fußes, welches ihnen, aus welchem Grund auch immer, geschmacklich nicht zusagen dürfte – aus diesem Grund ist ein DNA-Abgleich möglich. Üblicherweise wird bei getöteten Haus- oder Nutztieren auf einen DNA-Abgleich verzichtet.).

Wie gesagt studierte ich die Ausbreitung der Schwarzrussischen Blaufelleber hinsichtlich der Möglichkeiten der Verringerung der Gefahren für Menschen, Haus- und Nutztiere, jedoch sah ich mich gezwungen, mein Studium als Semistudium weiterzuführen und als solches zu Ende zu bringen, denn ich brachte es nicht fertig, die für die Erlangung der Doktorwürde unbedingt erforderlichen Beobachtungen und Versuche im Habitat der Schwarzrussischen Blaufelleber, also in der freien Natur zu machen und durchzuführen, denn jedes Mal, wenn ich eines solchen Tieres ansichtig wurde, geriet ICH in Harnisch. Mich ekelte und ekelt noch immer vor der Unreinheit der hellblauen Borsten dieser Bestien.
Ich bin nämlich peinlich rein!

Der Hang, oder besser Drang, oder noch besser, weil präzise, Zwang zur Reinheit ist mir immanent. Meine Großmutter hatte sich verschiedene Arten von Haustieren gehalten, die als klein gelten konnten. Kaninchen, Hühner, Tauben und Meerbachen (eine dem Meerschweinchen nah verwandte Art, welche sich in schwarzrussischen Kochtöpfen höchster Beliebtheit erfreut) – zur Verwendung in der Küche. Ich fand – und finde immer noch – diese Tiere grässlich, da sie mir als nicht rein erschienen und erscheinen. In ihren Käfigen lagen ihre Haare und Federn neben ihren Exkrementen auf dem Boden herum, und die Tiere mittendrin.
Ich nehme an, dass sich mein Zwang zur Reinheit beim Anblick dieser Tiere in ihren Käfigen ausgebildet hat. Ich wollte ja die von meiner Großmutter aus dem Fleisch dieser Tiere zubereiteten Speisen, die, das muss ich zugeben, köstlich ausgesehen und herrlich geduftet hatten, verzehren – allein, ich konnte es nicht. Der Gedanke an die Käfige ließ mich die Nahrungsaufnahme verweigern.

Fisch aß und esse ich immer gerne. Die weiße Farbe des Fleisches des Schwarzrussischen Wespensalmlers, nachdem dieser von seiner schwarz-gelb gestreiften und mit giftigen Stacheln bewehrten Haut befreit wurde, vermittelt mir das Gefühl, etwas Reines zu mir zu nehmen. Ich liebe das Fleisch dieses Fisches, jedoch ungewürzt und bloß in Wasser gekocht. Es ist nicht so, dass ich nicht versucht hätte, ihm mit Pfeffer und anderen Gewürzen zu ein wenig mehr Geschmack zu verhelfen, doch war das Fleisch des Fisches danach nicht mehr reinweiß. Die Pfefferstückchen nahmen sich wie winzige Verunreinigungen aus, die Teilchen der übrigen Gewürze ebenfalls. Ich musste den Fisch wegwerfen.

Es ist nicht so, dass ich mich bloß vom Fleisch des Schwarzrussischen Wespensalmlers ernähre. Ich habe nichts gegen Fleisch einzuwenden. Ich esse gerne ein saftiges Steak, welches ich scharf anbrate, jedoch nicht in Öl, sondern in einer geringen Menge Wasser. Öl würde unter Umständen Rückstände auf dem Fleisch belassen, die farblich unmöglich zu seinem Grundton passen können, also brate ich meine Steaks stets in Wasser an.
Wasser halte ich ohnehin für das wertvollste, weil die Reinheit am wenigsten beeinträchtigende Element in der Küche. Ich koche, gare, frittiere und brate stets mit Wasser, jedoch bloß eine Zutat auf einmal, um die Reinheit nicht zu gefährden.
Verlangt mich beispielsweise nach Steak mit gekochten Fisolen, so brate ich das Fleisch in Wasser an, verzehre es – natürlich ungewürzt -, hernach koche und verzehre ich die Fisolen; dies, um die Reinheit auf dem Teller nicht zu gefährden.

Ich möchte nun nicht den Eindruck erwecken, ich wäre verrückt, gemeingefährlich oder gar pedantisch. Das bin ich nämlich – natürlich – nicht!
Es ist nicht so, dass ich stets blütenreinweiß gewandet durch die Gegend laufe. Ich besitze Kleidung in verschiedenen Farben wie Weiß, Reinweiß, Blütenweiß, aber auch Schwarz, Dunkel- und Hellblau sowie – hierbei handelt es sich um ein Geschenk meines Verwandten Wladimir Suffkopp; er ist Vizesekretär des schwarzrussischen Vizeministers für Fragen der Schwarzrussischen Kleiderordnung – Rosarot.
Wie Sie sich sicherlich vorstellen können (oder denken werden), stehe ich bezüglich Kleidungsstücken in der jeweiligen angeführten Farbe in Vollausstattung, von der Badehose bis zum Skianzug. Ich trage stets Kleidungsstücke von derselben Farbe, denn ich möchte die Reinheit meines Erscheinungsbildes hinsichtlich Farbe nicht durch die Hereinnahme eines anderen Farbtons trüben oder gar vernichten. Besonders grässlich ist es, also besonders großen Graus bereitet es mir, wenn ich, beim Essen beispielsweise, kleckere oder gar fremdbekleckert werde.

Über diese besondere Grässlichkeit habe ich vor etwa zwei Jahren mit meinem Großvetter Dr. Igor Kushkurow, er ist das Genie in meiner Familie, gesprochen. Großvetter Igor forscht zurzeit an der Staatlichen Schwarzrussischen Universität zur Frage (der Studienauftrag ist in diesem Fall als Frage formuliert) “Sinn oder Unsinn? – Die Balzrituale männlicher Schwarzrussischer Zwergkopflemminge und ihre Intention, die ohnehin stets zur geschlechtlichen Vereinigung freudig bereiten weiblichen Genossen dieser Art zur geschlechtlichen Vereinigung zu bewegen.” Großvetter Igor erklärte mir, dass die Anzahl der weiblichen Schwarzrussischen Zwergkopflemminge, die im Laufe ihres Lebens unumkehrbare geschlechtliche Neigungen zu den weiblichen (sic!) Genossen ihrer Art entwickeln, bei mittlerweile neunundachtzig Prozent liegt. Er hat mir das Ergebnis seiner Forschungstätigkeit mitgeteilt, obwohl diese Studio offiziell erst in drei Jahren abgeschlossen sein wird (dem gemächlich tröpfelnden Geldhahn des schwarzrussischen Ministeriums für militärische, polizeiliche und universitäre Angelegenheiten würde Dank gebühren, meinte Dr. Kushkurow bitter): ie weiblichen Schwarzrussischen Zwergkopflemminge entwickeln gleichgeschlechtliche Tendenzen, da sich die männlichen Genossen ihrer Art für gewöhnlich den Großteil ihrer Lebenszeit (fünfundneunzig Prozent der Zeit!) auf der Balz befinden und somit naturgemäß bei Weitem zu wenig Energie haben, sich im dem Fall, dass sie zum Zug kommen, auf eine Art und Weise zu gerieren, die männlichen Genossen ihrer Art nun einmal gut anstünde (Großvetter Igor sprach von ‘libidinös-phallischer Dysfunktion’ – ich weiß nicht, was er damit meinte).

Ich sprach also vor gut zwei Jahren mit Großvetter Igor über die Grässlichkeit eigen- oder – noch schlimmer, da aufgezwungen! – fremdbekleckerter Kleidung. Da mein Großvetter mich gut kennt, wusste er, wie wichtig mir eine Lösung dieses schwerwiegenden Problems war (die erste Variante zur Lösung, die er mir vorschlug, nämlich das bekleckerte Kleidungsstück in die Waschmaschine zu legen und diese in Gang zu setzen, war selbstverständlich von mir abgelehnt worden. Was, wenn an der Stelle des Flecks eine ausgewaschen erscheinende Textilstelle sichtbar würde, also von Rosarot zu ausgewaschenem Hellrosarot zum Beispiel? – Nein! Ein noch viel größerer Graus!), nahm er sich gerne zwei Wochen Zeit, um sich einen Überblick über die Gesamtsituation zu verschaffen. Danke, Igor! Und Nastrovje!
Er teilte mir mit, dass in meinem Fall (er sprach von supranasal und auch irgendwas von Subillumination – ich weiß nicht, was er meinte) wohl der Einsatz der sogenannten ‘Fleckenschere’ die beste Lösung wäre. Seit diesem Tag trage ich eine Fleckenschere mit mir; mit ihr schneide ich Flecken einfach aus meiner Kleidung heraus. So bleibt mein farbliches Erscheinungsbild stets rein.

Sie werden jetzt denken, dass ich mit Löchern in meiner Kleidung, die meine nackte Haut, die naturgemäß weder rosafarben noch schwarz ist, zum Vorschein bringen, durch die Straßen laufe – weit gefehlt! Es ist vielmehr so, dass ich stets mehrere Schichten an Kleidung übereinander trage. Wird beispielsweise meine Hose bekleckert und schneide ich den Fleck dann aus ihr heraus, so ist keine Veränderung in meinem farblichen Erscheinungsbild feststellbar, denn unter meiner Hose trage ich stets eine lange Unterhose. Durch das Tragen mehrerer Schichten übereinander bin ich also stets auf der sicheren Seite.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht |Inventarnummer: 17119