Dorfgeflüster

Es war eine kalte, neblige Novembernacht, die Greta Schinagl sich ausgesucht hatte, um auf den Kugelberg zu gehen. Dorthin war sie schon immer gegangen, wenn Probleme sie belastet hatten. Die Ruhe, die der Wald ausstrahlte, hatte ihr viele Male dabei geholfen, ihre Gedanken zu ordnen und Lösungen zu finden.
Greta ging durch den Wald und dachte an ihre Tochter Maria, die von allen Mitzi genannt wurde. Diese hatte ihr nur Stunden vor dem Spaziergang eröffnet, dass sie Hans Maier, ihren Verlobten, verlassen und an Peter Meisters Seite wechseln würde.

Greta war bestimmt keine konservative Frau, die eine solche Nachricht aus der Bahn geworfen hätte, doch war Hans Maier nicht Mitzis erster Verlobter gewesen. Zuvor hatte sie Martin Schuster, Alois Möstl und Walter Mierz ihre Verlobungsringe zurückgegeben. Das ganze Dorf wusste über Mitzis Umtriebigkeit in Liebesangelegenheiten Bescheid, und das belastete Greta, die stets um Diskretion bemüht war.
Hinter vorgehaltener Hand wurde Mitzi der Liederlichkeit bezichtigt, auch wenn es natürlich so war, dass sich etliche junge Männer Hoffnungen machten, mit dem attraktiven Fräulein zusammenzukommen.

Als Greta Schinagl sich einer alten Buche näherte, an deren Stamm gelehnt sie gerne verweilte, fühlte sie, dass etwas anders war als sonst. Sie war nicht alleine im Wald. Sie hörte das Brechen von Zweigen auf dem Waldboden und bald sah sie eine kleine Frau auf sich zukommen. Eine Wolke gab den Vollmond frei und sie erkannte, dass es sich bei der Frau um Waltraud Klinger handelte.
Diese war im Dorf als eine Frau bekannt, die über magische Kräfte verfügte. Sie hatte mit ihrer Zauberkunst schon vielen Menschen geholfen, doch hatten die Leute auch Angst vor ihr. Sie fürchteten nämlich, dass Waltraud ihre Magie gegen sie einsetzen könnte, wenngleich die friedliebende Hexe nie in Streitigkeiten verwickelt war.

„Kalt ist es heute“, stellte Waltraud fest.
„Ja, Waltraud, das ist es“, pflichtete ihr Greta bei und seufzte.
„Mitzi hat wohl wieder einen Neuen. Oder bist du aus einem anderen Grund in den Wald gegangen?“
„Ich weiß nicht, was mit meiner Tochter los ist!“, rief Greta.
„Ich könnte dir helfen.“
„Wie denn? Bei Mitzi ist doch Hopfen und Malz verloren!“
„Ich habe einen neuen Zauberspruch formuliert, der deine Tochter auf den rechten Weg zurückbringen wird. Allerdings verlange ich eine Gegenleistung.“
„Ich habe nicht viel Geld, Waltraud, aber was ich dir geben kann, sollst du erhalten.“

Die Hexe winkte ab, Geld interessierte sie nicht. Sie flüsterte in Gretas Ohr, was ihr Hexenlohn werden sollte.
„Nein!“, entfuhr es Greta. „Das Rezept für meine Haferkekse ist ein uraltes Familiengeheimnis. Ich kann es dir einfach nicht geben.“
„Das ist sehr schade, vor allem für deine Tochter.“
„Wofür brauchst du es denn? Du bist doch eine Hexe. Dir muss es doch ein Leichtes sein, dieses Gebäck auf den Tisch zu zaubern.“
„Das mag schon sein, doch hexe ich niemals für mich selbst. Ich finde, dass sich das nicht gehört.“
„Kann ich dir etwas anderes geben?“
„Nein, Greta. Ich will das Rezept. Das kann doch nicht zu viel verlangt sein – als Gegenleistung dafür, dass Mitzi endlich ein normales Leben führt.“

Greta Schinagl überlegte zwei Minuten, und schließlich willigte sie ein.
Waltraud murmelte den Zauberspruch, während Mitzis Mutter das Rezept auf ein Blatt Papier schrieb, das sie in ihrer Jackentasche gefunden hatte.
Zwei Tage später besuchte Mitzi ihre Mutter.
„Mama, ich habe beschlossen, Hans doch zu heiraten. Ich weiß nicht, welcher Teufel mich geritten hat, ihn zu verlassen.“
Greta lachte innerlich. Sie wusste sehr wohl, was der Grund für den Sinneswandel ihrer Tochter war.
„Es freut mich sehr, dass du Hans nicht verlässt, Mitzi. Er ist ein netter Mann, und ihr werdet bestimmt glücklich.“

Die Nachricht machte rasch die Runde im Dorf, und von einem Tag auf den anderen wurde nicht mehr schlecht über Mitzi Schinagl geredet.
In Dörfern ist es oft so, dass ein Mensch schnell die Gunst der anderen verliert, doch wenn sich eine Kleinigkeit ändert, wenn er den Vorstellungen der anderen plötzlich entspricht, ist er wieder wohlgelitten – obwohl er derselbe Mensch ist.

Drei Wochen nach der Hochzeit von Mitzi und Hans pochte es an Greta Schinagls Haustüre.
Die Hexe stand davor und rief: „Du hast mich betrogen!“
„Ich habe dich nicht betrogen, Waltraud“, antwortete Greta.
„Doch, das hast du! Die Haferkekse wollen mir einfach nicht gelingen. Du hast mir bestimmt eine Zutat verschwiegen!“
Sie hielt Greta das Rezept vor die Nase. Greta las, was sie geschrieben hatte.
„Es tut mir leid, Waltraud. Ich habe das Rezept so aufgeschrieben, wie meine Großmutter es mir damals überliefert hat.“
„Ich glaube dir nicht!“, rief die Hexe. „Aus diesem Grund sehe ich mich gezwungen, die Wandlung deiner Tochter zum Guten hin rückgängig zu machen.“
„Nein, Waltraud, das darfst du nicht tun! Was soll dann aus dem armen Kind werden?“
„Das ist mir gleichgültig, Greta!“

Die Hexe lief davon, und Greta lag die ganze Nacht wach im Bett. Die Sorge um die Zukunft ihrer Tochter ließ sie keinen Schlaf finden.
Waltraud Klinger machte ihre Ankündigung nicht wahr – wenigstens nicht auf die Art und Weise, die Mitzi in alte Verhaltensmuster hätte zurückfallen lassen.
Mitzi erwachte am nächsten Morgen und lief, nachdem sie ihr Spiegelbild gesehen hatte, zu ihrer Mutter.
„Um Himmels willen! Was ist mit dir geschehen, mein Kind?“, stieß Greta entsetzt hervor, als sie ihre Tochter sah.
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Mama“, gab Mitzi sarkastisch zurück. „Mir war eben danach, mir über Nacht einen Buckel wachsen zu lassen. Auch die beiden Warzen auf meiner Nase stehen mir gut, findest du nicht?“
Dann brach sie in Tränen aus.

Greta ergriff ihre Hand.
„Das ist meine Schuld, Mitzi.“
„Was hast du getan, Mama?“
Greta erzählte ihr von dem Abend im Wald.
„Hast du Waltraud denn das richtige Rezept gegeben?“
„Ja, Mitzi, das habe ich. Ich weiß nicht, warum sie es nicht fertigbringt, danach zu backen.“
„Was soll ich denn jetzt machen?“, fragte Mitzi verzweifelt. „So, wie ich aussehe, werde ich zum Gespött des Dorfes!“
„Ich verspreche dir, dass ich eine Lösung finden werde“, sagte Greta Schinagl und verließ das Haus.

Atemlos pochte sie an Waltraud Klingers Türe.
Die Hexe öffnete und sagte: „Gefällt dir deine Tochter, so wie sie nun aussieht?“
„Waltraud“, rief Greta, „ich habe dich nicht betrogen!“
Doch die Hexe hatte kein Interesse daran, das Gespräch weiterzuführen.
„In zwei Tagen kannst du wiederkommen, Greta! Dann sehen wir weiter.“

Mitzis verändertes Aussehen blieb niemandem im Dorf verborgen. Gerüchte machten bald die Runde. Die junge Frau wäre ihrem Verlobten untreu gewesen, und der Fluch die Strafe dafür. Ein anderes besagte, Mitzis Schwiegermutter hätte die Verwandlung bewirkt, um ihr eine Lektion zu erteilen – wofür, das sagte die Person, die das Gerücht in die Welt gesetzt hatte, nicht dazu.
Zwei Tage später stand Greta Schinagl erneut vor Waltraud Klingers Haustüre.
„Waltraud, bist du nun bereit zu reden?“
„Komm herein, Greta.“

Sie nahmen am Küchentisch Platz, auf welchem die Hexe die Zutaten für die Haferkekse vorbereitet hatte.
„Es wird wohl das Beste sein, wenn du sie vor meinen Augen zubereitest, Greta. Ich werde mir einprägen, was du machst und wie du es machst, und dann backe ich die Kekse vor deinen Augen.“
„Einverstanden“, sagte Greta und machte sich an die Arbeit.
Nachdem die Kekse ausgekühlt waren, kosteten die beiden Frauen davon.
„Sie schmecken so, wie deine Haferkekse immer geschmeckt haben“, stellte Waltraud fest. „Nun backe ich welche.“
Greta sah der Hexe dabei zu, ohne ein Wort zu sagen.
Waltrauds Kekse schmeckten grauenhaft.
„Also, Greta, welchen Fehler habe ich gemacht?“
„Handwerklich hast du alles richtig gemacht, Waltraud.“
„Woran liegt es dann?“
„Du hast die Haferkekse ohne Liebe zubereitet. Alles was man macht, muss man mit Liebe machen. Versuch es noch einmal.“

Die Hexe machte sich erneut ans Werk, und siehe da, diese Kekse schmeckten vorzüglich.
„Wirst du nun den Fluch von Mitzi nehmen?“
„Ja, das werde ich.“
Sie sprach eine magische Formel, und Mitzi war wieder so schön wie sie zuvor gewesen war.
Erneut machten Gerüchte die Runde, doch dieses Mal sorgte Greta Schinagl dafür, dass sie schnell verstummten.

Beinahe alle Dorfbewohner waren im großen Bierzelt auf der Festwiese versammelt, als Greta die Bühne erklomm und folgende Worte an die Anwesenden richtete: „Liebe Mitbürger! Ich weiß, dass ihr euch fragt, was es mit Mitzis Verwandlung und Rückverwandlung auf sich hat. Nun, ich kann euch versichern, dass alles in Ordnung ist.
Ich war erstaunt, wie sehr ihr euch für meine Tochter interessiert habt, und dafür danke ich euch. Nein, bitte seid nicht betreten und senkt eure Blicke nicht! Ich meine das ehrlich. Da habe ich gefühlt, wie viel Liebe in euch steckt. So viel Liebe, wie ihr auf das Erfinden von Gerüchten verwendet habt, habe ich selten erlebt.
Vielen Dank dafür! Ich bin mir nicht sicher, ob sich das gehört, doch habe ich eine Bitte an euch: Legt in Zukunft einfach die selbe Liebe in alles, was ihr macht, also in reale Dinge! Danke!“

Das hatte gesessen. Über Mitzi wurde nicht mehr gesprochen, und auch andere Dorfbewohner und deren Taten wurden nicht mehr zu Zielen des Argwohns, des Spottes oder gar der Lüge.

Michael Timoschek

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