Die Beere

Gegeben sei eine einzigartige Pflanze, deren Frucht derart giftig ist, dass selbst der Verzehr kleinster Mengen zum sofortigen Tode führt. Aus diesem Grund konnte bislang eine Beschreibung des wohl einzigartigen Geschmacks dieser Beere nicht gelingen. Auf jeglichen Versuch der kulinarischen Erfassung – sei es aus wissenschaftlichen Motiven oder aus bloßer Neugier – folgt dieselbe unverzügliche und finale Konsequenz.

Zahlreiche Augen starren immerzu auf dieses besondere Gewächs, während sich in den Mündern angesichts der vielleicht köstlichen Beere der Speichel schon sammelt. Manchmal gelingt es, sich von der unheilvollen Schöpfung abzuwenden. Das Tückische an der Versuchung liegt jedoch darin begründet, dass aufgrund irgendeines seltsamen Naturgesetzes das weit entfernte stets das begehrteste aller Objekte ist. Durch die Faszination des Unerreichbaren erlangt die Beere Eingang in alle Gedanken, in alle Träume, in alle Handlungen, in alle Zielsetzungen.

Man isst, man trinkt, man schläft, man wacht, man denkt, man spricht, man leugnet, man existiert wegen der Beere. Man versucht mit großem Einsatz und sämtlichen Mitteln die Beere zufriedenzustellen, ja ihr zu genügen. Man lebt für die Beere und geht in ihr auf. Was gibt es noch Begehrenswertes an dieser Welt, wenn nicht die eine einzig wahre wahrhaftige Frucht aller Früchte?

Schließlich esse ich die Beere und sterbe den glücklichsten Tod meines Lebens.

Sandra Stadlbauer

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 15146