Eine jagdliche Szene

Eine neoklassizistische Villa im Salzkammergut. Das Haus, umgebaut zur Privatpension, beherbergt eine Reihe illustrer Gäste. Unter ihnen eine attraktive junge Dame mit Namen Sybilla Trinks, in die sich Norman Moll, Kurgast, Individualist und Einzelgänger, spontan verliebt hat. Man nimmt einen Drink zusammen auf der Terrasse des Hauses. Thema eines angeregten Gesprächs ist Bodo Rabitsch, gleichfalls Kurgast, genannt der Lodenbaron, und ein Ekel, das in der Lage ist, Norman Moll mit seiner widerlichen Art in der Öffentlichkeit stets aufs Höchste zu verunsichern.

„Was sagen Sie dazu?“ Moll zuckte mit den Schultern. „Also gut. Ich kann Ihnen versichern, Ihre Paranoia diesem Menschen gegenüber scheint mir völlig unbegründet. Dieser Mann, vor dem Sie so unheimlich Schiss haben, ist im Grunde genommen ein Emporkömmling, ein Parvenü.“ Moll hob die Augenbrauen. „Dieser Mensch hat im Grunde in seinem ganzen Leben noch nichts anderes getan, als auf die Butterseite zu fallen, und das aus Kalkül.“ „Und woher wollen Sie das wissen?“, fragte Moll zweifelnd. „Ich weiß es eben, das muss genügen und tut nichts zur Sache. Dieser Rabitsch hat einfach in eine vermögende Familie eingeheiratet. Loden! Sie verstehen. Das war’s auch schon. Zufällig hat sich die Tochter seines Lehrherren, eines Schneiders, in ihn, den Lehrbuben, verliebt. Romantisch, nicht wahr? Ihre Eltern waren allerdings von Anfang an dagegen, dass sich hier was anbahnt.
Aber da war eben nichts zu machen. Der Herr Schwiegersohn in spe hat daraufhin seine handwerkliche Lehre abgebrochen, hat das Mädel geheiratet und ist sofort zum Prokuristen im schwiegerelterlichen Betrieb aufgestiegen.“ „Ah!“ Hodenlose Lodenhose, erinnerte sich Moll an eine Silbenverdrehung und schmunzelte. „Ein paar Jahre waren dem Betrieb noch Umsatzhochs beschieden, bis man eines Tages Konkurs anmelden musste, weil die Konkurrenz auch nicht geschlafen hat, und aus war‘s.

Tatsache ist, dass eine Menge Geld da war, trotzdem, und dass man in dem Häuschen, das man als Jungvermählte bekommen hatte, weiterhin hervorragend domizilierte, und von der Mitgift, beziehungsweise aus Veräußerungen der betrieblichen Reste unbekümmert leben konnte, auch ohne zu arbeiten.“ „Beneidenswert“, seufzte Moll lächelnd, „und ich hab‘ geglaubt, er ist zumindest Wirtschaftsprofessor oder so etwas Ähnliches. so, wie er stets doziert!“ Beide lachten. „Immerhin haben   S i e   ihn neulich ja selbst geadelt, wenn man bedenkt, wie Sie ihn immer nennen, den Lodenbaron eben“, lachte Sybilla Trinks und nahm ein Schlückchen Sekt zu sich. „Naja, Ökonomieadel! In Deutschland oder in Polen wurden im neunzehnten Jahrhundert ganze Dörfer auf diese Weise zu Baronen gemacht“, bemerkte Moll zynisch.
Die Trinks fuhr fort: „Die Geschichte geht noch weiter. Als die Kinder aus dem Haus waren, fuhr der Herr einmal auf Kur. Das Ergebnis dieser Reise hat sich in Person der Frau Linda Maar niedergeschlagen. Seither tritt sie offiziell als sein Schatten auf. Dort, dort drüben – der Schatten, den Sie ja bereits seit Nachmittag neben ihm nicht übersehen können.“ „Also, ein Schatten ist sie nun wirklich nicht“, lachte Moll, „weder von der Physis her noch vom Charakter. Was ich mir da vorhin anhören musste, war eine …“.
„Hat sie Ihnen etwa die neue Rolle der modernen Frau als Führungskraft zu vermitteln versucht?“ „So könnte man es ausdrücken, ja!“ „Verstehe! Also, der Baron ist ein Meister der Doppelrolle, wie Sie unschwer erkennen können. Arm ist nur seine Gattin. Ich habe schon einmal angedeutet, dass sie eine ganz liebenswerte Person ist. Sie würde sich nie über ihre Situation beschweren, glauben Sie mir. Eine Frau, die stets versucht hat, nur das Gute in diesem Menschen zu sehen, und niemals seine Fehler.“
„Ach!“, kam es Moll so über die Lippen. „Aus welchen Gründen sie das tut, ist mir noch unklar. Ein wesentlicher Grund aber dürfte sicher der gesellschaftliche Status sein. Das heißt, man lässt sich nicht scheiden in dieser Welt, aus der sie kommt. Die Pracht der Tracht, wenn Sie verstehen!“ „Und so duldet sie still.“ „Wie viele von uns“, sagte Norman Moll nachdenklich. Sybilla Trinks lehnte sich in ihrem Korbsessel zurück, mitleidig lächelnd. Blitzschnell dachte Moll an einen Rückzieher. Zu spät! „Das habe ich erwartet, dass Sie jetzt so etwas sagen würden. Sieht Ihnen ähnlich, wirklich!“

Moll hob erstaunt seinen Kopf. „Wieso?“, fragte er, „was hab‘ ich schon wieder gesagt?“ Und beinahe befürchtete er die Beziehung zu ihr im Kippen, wie auch eine gewisse Nüchternheit sich seiner ihr gegenüber bemächtigen wollte, äußerst unangenehm, bedachte er seine bisherige Situation mit ihr, das Tänzchen vorhin und überhaupt! Es wollte ihm nicht konvenieren, dass sich die Sache nun in eine Art psychotherapeutische Séance zu wandeln begonnen hatte, noch dazu in eine, in der er den Patienten spielen sollte. Unerhört! Da läutete ihr Handy. Moll schreckte hoch. Sybilla Trinks war aufgestanden und spazierte ganz langsam auf der Terrasse auf und ab, telefonierend.
Über dieser höchst störenden Unterbrechung hatte Moll aufgehört, irgendwelche Schlüsse aus ihrer letzten Bemerkung zu ziehen, so echauffierte ihn diese und seine Erinnerung an das Schöne, das Romantische, ja, das Ideal des Menschseins schlechthin, die Leidenschaft der, beinahe hätte er Liebe gedacht, nein, Liebe war es eigentlich nicht, der Neugierde – zerstörte sich mit einem Male ganz von selbst, und er saß da, ein Häuflein Elend, mit runden Schultern, die nach vorne fielen, in der Hand das Sektglas, das leere, der Patient – ausgeliefert, krank in der Seele, unrettbar verloren!
Ein Blick zu Lodenbaron Rabitsch. Man unterhielt sich prächtig dort drüben. Die Trinks telefonierte noch immer.
Jetzt war Rabitsch aufgestanden und die Treppen in den Park hinuntergegangen. Sein helles Lodensakko strahlte im Mondlicht. Wieso geht er in den Park? Die Toiletten waren doch …? Moll dachte an seine Lendenwirbelsäule und wagte nicht, sich ruckartig zu erheben, und doch zehrte eine unbändige Neugierde an seinen Nerven. Er stützte sich mit beiden Händen auf die Lehnen und erhob sich ganz langsam. Keine Ahnung, wie lange er hier schon gesessen hatte, auf alle Fälle zu lange! Die Schmerzen in seinem Rücken waren erheblich.

Aber der Drang, dem Trachtenbaron unauffällig zu folgen, war stärker. Wer Moll so sah, den musste unweigerlich tiefes Mitgefühl befallen, ihn so leidend zu sehen, und es gelang ihm erst nach einigen mühevollen Schritten, sich selbstständig aus der weit nach vorn gebückten Haltung vollständig aufzurichten, begleitet von einer seufzenden Interjektion, aahhh, Ausdruck einer spontanen Gefühlsbewegung, leicht ablesbar aus dem Gesichtsausdruck sowie der Stellung seines Mundes, welche Schmerz signalisierte. So begab er sich, unbeobachtet von Trinks, die mit dem Gesicht in jene von ihm aus entgegengesetzte Richtung stand, ganz langsam, scheinbar völlig ohne bestimmtes Ziel, den Baron dabei nicht aus den Augen lassend, in Richtung der Treppen, die in die Parkanlage führten und an denen er nun vorsichtig hinunterstieg.
Zunächst waren seine Augen noch von der Terrassenbeleuchtung geblendet und konnten im Dunkel der Bäume und Büsche nichts ausrichten. So verharrte er vorläufig im Schutze einer mächtigen Thuje. Dort vorne war Rabitsch, ganz deutlich auszunehmen, in strahlend weißer Tracht, und offensichtlich bemüht, authentische Laute der Natur nachzuahmen. Vielleicht jene der Nachtigallen? Rabitsch übte das Modulieren des Klanges, erst hoch, dann etwas tiefer – das klang aber nicht nach Nachtigall – eher wie die Tritonschnecke – das Herakleumrohr – eine Nuance zerbrechlicher und etwas zu leise – aber er machte es geschickt – platzierte den Ruf so, dass zu erwarten war, das Wild würde in den nächsten Minuten zustehen – galt es doch als wahrscheinlich, es vom Rudel wegzulocken, was zwar nur in ganz seltenen Fällen gelang, aber bitte!

Dieser Teil des Rabitsch´schen Reviers, mit seinen Niederungen und Dickungen, beanspruchte den erfahrenen Fährtenleser voll und ganz, wies es doch zumeist kurz geschnittene Rasenflächen auf, dazwischen eingesprengt etliche Blumenbeete, in denen zweiundfünfzig Rosenarten ihr bunt duftendes Dasein fristeten. Doch immerhin gestattete es der kleinkörnige weiße Kies durch tiefere Abdrücke der Hufe, das Abfährten leichter erkennbar zu machen, welche Richtung das Wild letztlich genommen hatte. Moll schlich unauffällig hinter Rabitsch her, auf leisen Sohlen. Vor Rabitsch etwas Helles, das Tier – unvorsichtig und überhaupt nicht darauf bedacht, sich zu tarnen oder gar vor seinem Jäger verstecken zu wollen, nein, es fühlte sich offenbar völlig sicher in seinem dichten, mit trockenen Zweigen übersäten Bestand, ja, verursachte dabei sogar noch heftige Geräusche, derart, als ob es mit einem Mülleimerdeckel spielte.
Aber es stand noch nicht zu, trotz Rabitsch´s heftigster Lockungen. Und dieser war noch zu weit entfernt und musste wohl näher heran. Schwierig, in diesem dichten Unterwuchs, obwohl – der Wind stand günstig, wenn auch schwach – so könnte er es anpacken! Etwas störend dabei schien das helle Trachtensakko. Nicht unbedingt ein Tarnkleid. Doch, was gab es Aufregenderes, als so nahe der Beute zu sein, um sie in ihrem Einstand mit dem Ruf anzugehen? Und selbst wer niemals Jäger war, musste ihn spätestens jetzt empfinden, den Urinstinkt jagdlicher Triebhaftigkeit! So standen sie, hintereinander, in atemberaubender Stille und in unmittelbarer Nähe der geweihten Beute. Da brach es aus dem Unterholz! Fräulein Trixi, die Haushaltshilfe, mit einem Biokübel in der Hand.
„Ach! Jetzt bin ich aber erschrocken!“, rief sie Rabitsch zu, „haben Sie mich aber…“. Moll verschwand blitzschnell hinter einem Rosenstrauch und ging in Deckung. Diese Niedertracht! Moll war empört. Das hier sollte sozusagen zum „Wildbret“ werden! Schau dir an, dachte er, dieser Gauner! „Also, das tut mir jetzt aber leid“, log Rabitsch, „nie im Leben hätte ich daran gedacht, Ihnen Angst einzujagen, ehrlich! Ach, darf ich Ihnen behilflich sein? Geben S‘ her, das Küberl ist ja viel zu schwer für Sie!“, worauf Trixi diesen dem perfekten Gentleman mit zuckersüßem Lächeln übergab. Beide kehrten scherzend zur Villa zurück.

Moll krachten die Knie vom Hinhocken. Ein stechender Schmerz durchfuhr beide Minisken, das musste der Plural sein, schien ihm, sodass er schier aufschreien wollte, als er plötzlich nach hinten umkippte und auf dem Rücken zu liegen kam, wie ein Käfer in der Morgenstarre, das Laufwerk in die Höhe gerichtet. Gott sei Dank hatten sie ihn nicht wahrgenommen. Äußerst peinlich das Ganze! Als er ihre Stimmen kaum mehr hören konnte, drehte er sich in Bauchlage, um sich aus der Stellung „auf allen Vieren“ langsam zu erheben. Gottlob hatte seine Garderobe keinen Schaden genommen.
Also schlenderte er ebenso unauffällig, wie er gekommen war, der belebten Terrasse zu. Er stieg die Treppe hinauf, vorbei am Tisch der übrigen Gäste, die sich immer noch prächtig unterhielten. Vorbei am Lodenbaron, der ihn anlächelte und seinen Platz neben Lindakind wieder eingenommen hatte. Diese hatte, dank ihrer Naivität, natürlich nichts von seinem waidmännischen Ausflug bemerkt. Moll lenkte seine Schritte in Richtung einsame Rattansitzgarnitur am anderen Ende der Terrasse, gleich neben der Music-Band, wo Sybilla Trinks bereits auf ihn zu warten schien.
Bis auf das Getratsche und Gelächter der anderen war nichts zu hören, vielleicht ein wenig Tellerklappern und Gläserklirren aus der Küche, aber die Grillen waren lauter und der Wind säuselte noch immer leise in den Ästen der gewaltigen Bäume rund ums Haus und im rückwärtigen Teil der Parkanlage. Die Musiker bekamen soeben im Salon ihr Nachtmahl serviert.

„Wo sind Sie denn auf einmal hergekommen?“, fragte Sybilla Trinks ganz erstaunt. „Ich war ein wenig auf der Pirsch“, lächelte Moll und setzte sich. Trinks schüttelte ungläubig ihr hübsches Köpfen, während die Wellen ihres luftig leichten Haares das zarte, schmale Gesicht umspielten. Da waren sie wieder, diese Impulse ihrer Haut, die sein körpereigenes Radarsystem bereits mehrfach geortet hatten, wenn er ihr plötzlich wieder so nahe war, und versetzten ihn in einen Schwebezustand unerhörter Selbstverständlichkeit, Besitzender zu sein, Eigentümer ihrer geheimsten Gedanken und gar Wünsche, Momente, an denen man eben an die unglaublichsten Dinge zu denken imstande war, ohne auch nur ein Jota Logik zu gebrauchen.

Norbert Johannes Prenner

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