Yuna

Ich muss mich gerade daran erinnern, als ich sie das erste Mal sah. Damals stand sie in Form einer Tomatenstaude in meinem Garten. Ich wunderte mich, denn ich hatte in meinem Garten eigentlich keine Tomatenstauden gepflanzt. Als ich trotzdem eine Tomate pflücken wollte, schrie sie mich an, es sei nicht gerade freundlich, ohne zu fragen, Tomaten von ihr zu pflücken. Vor Schreck war ich zurückgewichen. Ich war es nicht gewohnt, von Tomatenstauden angeschrien zu werden. Die Tomatenstaude sagte mir, sie sei gerade nicht in der Stimmung für Gesellschaft und bat mich, aus meinem eigenen Garten zu verschwinden. Ich gehorchte ihr.

Ich kam am nächsten Tag zurück und fragte sie, wieso sie in meinem Garten ihre Wurzeln in die Erde geschlagen hatte.
Wieso nicht, hatte sie geantwortet. Das leuchtete mir ein. Ich fragte sie, wie lange sie vorhabe, hier zu bleiben. Das entscheide sie spontan, hatte sie gesagt. Ob ich denn ein Problem damit habe, dass sie hier sei? Nein, überhaupt nicht.
Ich fragte sie vorsichtig, ob es ihr etwas ausmache, wenn ich etwas Gemüse um sie herum ernten würde. Sie erkannte mein Dilemma und sagte, dass es ihr überhaupt nichts ausmache, dieses Gemüse habe ja kein Bewusstsein.

Mit zwei Zucchini in der Hand fragte ich sie, warum gerade sie ein Bewusstsein hatte. Sie antwortete mir, dass sie nicht immer eine Tomatenstaude gewesen sei. Sie hatte sich nur vor kurzem wie eine Tomatenstaude gefühlt und da sei sie eine geworden. Sehr seltsam, dachte ich mir. Aber ich musste sie weiter mit Fragen löchern, verständlicherweise war ich sprechende Tomatenstauden nicht gewöhnt.
Ich fragte, wie sie es geschafft hatte, eine Tomatenstaude zu werden. Sie antwortete, dass sie diese Frage schon beantwortet habe. Sie hatte sich einfach danach gefühlt.
Meine nächste Frage war, wie sie es schaffte, zur Tomatenstaude zu werden, wenn sie sich danach fühlte.
Es erfordere ein wenig Übung und Geduld, erzählte sie mir, aber wenn ich wollte, könne sie mir gerne zeigen, wie das geht. Allerdings etwas später, sie werde bald abreisen.
Aber sie werde in unbestimmter Zeit wieder zu mir kommen und mir beibringen, wie ich zur Tomatenstaude werden könne.
Ich musste sie noch fragen, ob diese Verwandlungen nur auf Tomatenstauden begrenzt seien. Nein, ich sei ein Dummkopf, das sei natürlich auf jede beliebige Form erweiterbar.
Woher sollte ich denn das wissen? Ich würde gerne einmal ein Koala sein. Das sei natürlich auch möglich, sagte sie mir lachend. Aber erst, wenn sie wieder zurück von ihrer Reise war. Sie antwortete mir nicht auf die Frage, wohin ihre Reise ging. Das sei völlig unwichtig, erklärte sie mir.

Fünf Monate dauerte es, bis Yuna wieder bei mir aufkreuzte. Dieses Mal hatte sie ihre menschliche Gestalt angenommen.
Nach fünf Monaten der Ungewissheit, in denen ich fast jeden Tag Ausschau nach einer Tomatenstaude in meinem Garten hielt, stand sie also plötzlich vor meiner Tür und sagte, sie sei Yuna. Anfangs war ich etwas verwirrt und wusste nicht, was die fremde Frau von mir wollte, denn die Tomatenstaude hatte mir bei unserer letzten Begegnung ihren Namen gar nicht verraten. Sie sagte, es sei so leichter, mir die Kunst der Verinnerlichung, wie sie es nannte, beizubringen. Ich musste ihr zustimmen. Yuna hatte rote, lockige Haare und stets ein Lächeln im Gesicht. Sie trug ein schwarzes Kleid, das aussah, als hätte sie es geradewegs aus der Renaissance mitgebracht. Mein Name sei übrigens Tiam, sagte ich ihr. Ein schöner Name, befand sie. Tiam und Yuna.

Nun standen wir also in meiner Wohnung und Yuna begann, mich in die Kunst der Verinnerlichung einzuführen.
„Also, wie funktioniert das? Wie soll ich mir das vorstellen?“
„Stell dir vor, was du willst. Es gibt keine Grenzen. Aber beginne mit etwas Einfachem.“
„Und womit ist es einfach zu beginnen?“
„Hm. Stell dir vor, du bist dieser Tisch da drüben. Versuche, dich zu fühlen wie dieser Tisch.“
„Und wie fühlt sich ein Tisch?“
„Das musst du herausfinden. Stell dir vor, wie es sich anfühlen würde, auf vier harten, unbeweglichen Beinen zu stehen. Stell dir vor, wie es sich anfühlen würde, einfach nur aus Holz zu bestehen. Du musst dich in den Tisch hineinversetzen.“
Ich strengte mich zehn Minuten an, während Yuna mich gespannt beobachtete. Zu einem Tisch wurde ich trotz meines roten Kopfes nicht.
„Habe ich mich irgendwie verändert?“
„Nein. Aber das ist ganz normal für den Anfang. Es wird eine Weile dauern, bis du es schaffst, dich wie ein Tisch zu fühlen. Und vergiss nicht, du musst auch wirklich wollen, zu einem Tisch zu werden! Und lass dich nicht entmutigen.“

Yuna rieb sich die Augen und gähnte.
„Ich bin sehr müde. Wo kann ich mich denn schlafen legen?“
Ich war überrascht über das abrupte Ende meiner ersten Lehrstunde. Ich bot ihr an, auf meiner Couch oder in meinem Bett zu schlafen. Sie legte sich in mein Bett und schlief sofort ein, nachdem sie mir auftrug, es einfach weiter zu versuchen, bis sie wieder aufwachte.

Ich kehrte zurück in mein Wohnzimmer und versuchte die nächsten drei Stunden, mich wie ein Tisch zu fühlen. Ich strengte mich an, strich zärtlich mit der Hand über das lackierte Holz und stellte mich auf alle Viere, um mich besser in meine Rolle als Tisch hineinversetzen zu können.
Ich machte eine kurze Pause, aß etwas Suppe in der Küche und begab mich gleich wieder zum Objekt meiner Begierde.
Langsam wurde ich ungeduldig und hoffte, das Yuna bald wieder aufwachen würde. Diese Hoffnung erfüllte sich allerdings bis zum nächsten Tag nicht. Währenddessen versuchte ich weiter, zum Tisch zu werden, schlief ein paar Stunden auf der Couch und frühstückte.
Yuna kam in einem Nachthemd, von dem ich keine Ahnung hatte, wo sie  es herhatte, da sie ohne Gepäck bei mir aufgekreuzt war, gähnend ins Wohnzimmer und traf mich auf allen Vieren stehend neben dem Tisch an. Ich hatte schon starke Schmerzen in den Knien.
„Ich schaffe es einfach nicht.“
„Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben. Du musst es immer weiter versuchen. Weißt du wie lange es bei mir gedauert hat, bis ich mich das erste Mal verwandelte? Drei Wochen.“
Entmutigt ließ ich den Kopf hängen. Das würden meine Knie nicht durchhalten.
„Kann ich nicht zwischendurch versuchen, etwas anderes zu sein?“
„Ja, das ist eigentlich keine schlechte Idee. Versuche einfach ein paar Sachen und bleib bei dem, wo du denkst, dass du dich am besten einfühlen kannst.
Ich sah mich im Raum um. Mein Blick blieb bei meiner Stehlampe hängen. Yuna bemerkte es.
„Ja, das ist auch gut, nicht zu kompliziert. Alles, was du dir vorstellen musst, ist, wie du bewegungslos dastehst und dein Kopf hell leuchtet. Mehr oder weniger.“ Sie lächelte mich mit ihrem großen Mund an.

Die nächsten zwei Wochen verbrachte also ich die meiste Zeit mit meiner Stehlampe. Ab und zu versuchte ich auch, mich in andere Gegenstände hineinzuversetzen, doch ich kehrte immer wieder zur Stehlampe zurück, da ich mich mit ihr am besten identifizieren konnte. Hin und wieder kam Yuna hereingetänzelt und gab mir Ratschläge, wie ich mich am besten in Gegenstände hineinversetzen konnte. Den Hauptteil der Arbeit, betonte sie, müsse aber ich machen und meinen Sinn zur Verinnerlichung trainieren. Ich hatte keine Ahnung, was Yuna den Rest der Zeit trieb. Auch auf meine Anfragen hin, mir die Verinnerlichung dieser Stehlampe vorzuzeigen, entgegnete sie, das wäre für meinen Lernprozess nicht förderlich.
Zwei Wochen vergingen, und ich machte noch immer keine Anstalten, die Form zu ändern. Yuna bemerkte meine sinkende Moral und ermutigte mich immer wieder. Ich solle nicht aufgeben, sie merke schon, wie gut ich darin war, mich in Gegenstände um mich herum hineinzuversetzen.

Nach drei Wochen, ich war gerade dabei, mit meiner Stehlampe zu sprechen, und ihr das Geheimnis ihres Befindens zu entlocken, geschah etwas Seltsames.
Meine Füße und Beine fühlten sich plötzlich sonderbar kalt und hart an. Ich sah nach unten und entdeckte einen Metallsockel mit zwei Metallstäben an der Stelle, an der eigentlich meine Füße sein sollten. Mein Herz begann zu rasen und ich begann zu zittern. Die ganze Aufregung lenkte mich aber davon ab, mich wie die Lampe zu fühlen. Kurz darauf blickte ich wieder auf meine normalen Füße hinunter und wackelte mit den Zehen. Doch das machte mir überhaupt nichts aus. Ich hatte es geschafft, meine Füße in die meiner Stehlampe zu verwandeln.

Ich rief laut nach Yuna, doch sie kam nicht. Sie war wohl wieder auf einem ihrer mysteriösen Ausflüge, die mehrere Tage dauern konnten.
Ich konnte vor Freude kaum stillstehen. Kurz zuvor hatte ich schon fast die Hoffnung aufgegeben und wollte Yuna eine Schwindlerin schimpfen, wenn sie dagewesen wäre. Nun war ich froh, dass sie es nicht war. Ich musste mich wieder beruhigen und mich konzentrieren. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, was genau ich vorhin gefühlt hatte. Ich strengte mich an, doch ich blieb in meiner menschlichen Gestalt. Da fiel es mir ein, ich hatte es durch die Aufregung ganz vergessen. Ich hatte mir vorgestellt, was Lampen zueinander sagen würden, wenn sie sprechen könnten. Ich hatte einen ganzen Dialog gesponnen.

Ich versuchte, mich daran zu erinnern. Lampenstimmen erklangen in meinem Kopf. Meine Füße begannen wieder kalt zu werden und sich anzufühlen, als seien sie aus Metall. Das lag daran, dass sie mittlerweile wirklich aus Metall waren. Mein Herz begann wieder zu rasen, aber diesmal ließ ich mich davon nicht ablenken und schloss die Augen. Das kalte, metallische Gefühl begann, an meinen Beinen hochzukriechen, erreichte meine Leistengegend, kroch weiter und hatte schließlich meinen ganzen Körper eingenommen.
Ich versuchte die Augen zu öffnen, doch ich hatte keine Augen mehr. Ich war zur Lampe geworden. Ich konnte es nicht fassen. Ich wollte nach Yuna rufen, doch ich konnte nicht schreien. Stattdessen spürte ich, wie die Glühbirne in meinem Kopf begann, hell und wieder dunkler zu werden. Da spürte ich Erschütterungen im Parkettboden, auf dem ich stand.

Yuna war zur Tür hereingekommen. Sie lief auf die Stehlampe zu, die mitten im Raum stand und umarmte sie. Zumindest fühlte es sich so an. Ich war überglücklich und blieb noch etwa fünf Minuten in Lampengestalt. Dann verwandelte ich mich zurück. Yuna stand vor mir und strahlte mich an. Ich umarmte sie und bedankte mich etwa zwanzig Mal bei ihr.
„Keine Ursache. Es macht mit immer eine Riesenfreude, diese Kunst zu lehren. Aber dein Lernprozess ist nicht vorbei. Du hast noch viel zu lernen! Zum Beispiel, wie man spricht, wenn man keinen Mund hat, wie man sieht, wenn man keine Augen hat.“
Ich bedankte mich erneut und ließ sie los.
Yuna sagte, ich brauchte sie jetzt nicht mehr und verabschiedete sich am nächsten Tag, nachdem sie noch einmal in meinem Bett geschlafen hatte. Ich hatte mich mittlerweile an die Couch gewöhnt.

Jedes Mal, wenn wir uns in den nächsten Jahren begegneten, war ich besser geworden und ich konnte immer schneller immer mehr Sachen verinnerlichen. Hortensien, Autoreifen oder Laserdrucker waren kein Problem mehr. Ich übte jeden Tag fleißig. Mittlerweile traue ich mich zu behaupten, ein Meister in der Kunst der Verinnerlichung zu sein. Ich habe Yuna schon seit ein paar Jahren nicht mehr gesehen, aber ich bin mir sicher, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis wir uns wieder über den Weg laufen. Wahrscheinlich sind wir es auch schon und haben und nur nicht erkannt. Ich bin ihr unendlich dankbar und hoffe, sie hat ihr Wissen auch an andere weitergegeben. Bis jetzt habe ich aber noch keine anderen Verinnerlicher kennenlernen dürfen.

So habe ich also gelernt, mich in beliebige Gegenstände zu verwandeln. Ich bin in der Welt herumgekommen und habe schon die Gestalt unendlich vieler Gegenstände angenommen. Und natürlich war ich auch schon ein Koala und habe mir Eukalyptusblätter in den Rachen gestopft. Vielleicht bin ich ja gerade das Blatt Papier in deiner Hand, der Stift auf deinem Tisch oder die Tür dort drüben.
Fang einfach damit an, Gegenstände um dich herum anzusprechen, vielleicht bekommst du bald eine Antwort von einem von ihnen und wenn du nett bist, bringt er dir vielleicht auch bei, wie du dir etwas verinnerlichen kannst.

Samuel Deisenberger

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 15050