Ende einer Korrektorin

Ein wenig verrückt war sie immer schon, zumindest seit ich sie kannte.
Manchmal war es nicht ganz so leicht, ihr zu folgen, im wortwörtlichen wie im übertragenen Sinn. Ihr Schritt war flott, forsch, fordernd. Und ihre Worte waren es auch. Sie ließ nichts Ungefähres gelten, schwammig Formuliertes war ihr ein Graus. Warum sie mit mir befreundet war? Weil sie jemanden zum Korrigieren brauchte, und das war ich, ihre alte Schul- und Jugendfreundin.
Jede Woche trafen wir uns zu einem gemeinsamen Spaziergang, Spazierlauf eher, was sie betraf. Und das seit mehr als zehn Jahren schon. Mir zuliebe zügelte sie sogar ihre Schritte, schließlich wollten auch meine Zigaretten zeitgleich konsumiert werden, und zwar von ihr und von mir. Sie rauchte ausschließlich bei unseren Spaziergängen, sagte sie mir, dann dafür hemmungslos.
Ich spendierte also das Nikotin, sie die Gesprächsthemen.
Plötzlich, es war vor zwei Jahren, aber ich weiß es noch, als ob es eben passiert wäre, blieb sie stehen, wir waren gerade mitten in einem Gespräch über das männliche Gehirn und seine Rätsel. Diese blieben ungelöst, denn etwas fesselte ihren Blick mehr als das.
Es war ein Schild eines Psychotherapeuten, er bot „Termine nach Vereinbahrung“ an. Sie war sprachlos. Ein Doppel-Doktor mit Vereinbahrung. Sie schüttelte heftig den Kopf. Wenn es nicht Sonntagabend gewesen wäre, hätte sie sicherlich gleich die auf dem Schild angeführte Telefonnummer angerufen, so empört war sie.
Kurzentschlossen holte sie ihren Augenbrauenstift hervor und strich das ungeheuerliche „h“ durch. Es blieb ihr keine Wahl, ich sah es in ihren Augen, die Verzweiflung, beinahe Resignation.
Der restliche Spaziergang verlief wortkarg. Sie konnte es immer noch nicht glauben. Das war so in Druck gegangen, zur Schilderproduktion freigegeben, und angebracht an einem Haus mit über zwanzig Parteien, den Türschildern nach zu schließen. Es gingen also tagtäglich Unmengen an Personen hier vorbei und lasen das Unfassbare, und noch schlimmer, ließen es auf sich beruhen.
Seither wurden unsere gemeinsamen Wege von diesem Thema dominiert. Eine Baumarkt-Werbung mit Plakat im Schaufenster: „Preisatacke!“ O nein, ich sah es kommen, sie würde sich wieder fürchterlich aufregen. Manchmal versuchte ich sie zu schonen, andere Wege zu nehmen, wenn ich untertags auf Fehlerhaftes gestoßen war. Sie schien das alles sehr mitzunehmen, ja, persönlich zu treffen. Sie besserte nun mit rotem Lackstift aus (im Baumarkt-Fall direkt auf das Schaufensterglas, hinein konnte sie ja nicht), unsere Gänge fanden nach und nach immer später statt, bevorzugt in der Dunkelheit. Sie wollte ja nicht, dass wir Schwierigkeiten bekämen.
Irgendwie fühlte ich mich aufgewertet, als nunmehrige Komplizin. Wir hatten eine Mission.
Sie versuchte alles, wirklich alles, um der grassierenden Rechtschreibschwäche Einhalt zu gebieten. So machte sie die Schilderfirma ausfindig, die das „Vereinbahrungs-Schild“ zu verantworten hatte. Dort erhielt sie die Auskunft, der Psychotherapeut habe das in dieser Form hingeschickt, er sei sogar auf den Rechtschreibfehler hingewiesen worden, wollte das aber genau so haben. Sie verstand die Welt nicht mehr, nahm sich vor, den Doppel-Doktor zu kontaktieren. Eine für mich unverständliche Scheu, die ich bisher an ihr nicht kannte, ließ sie aber vor diesem Schritt zurückschrecken.
Dem Baumarktleiter hingegen schrieb sie ein gepfeffertes e-Mail, dass die Preisattacke auf ihr zweites „t“ nicht verzichten könne, und selbst wenn derzeit Sparpreise angeboten würden, doch bitte nicht an der Rechtschreibprüfung zu geizen sei. Keine Reaktion.
Sie wurde immer verbissener.
Eine Neonreklame in luftiger Höhe machte mir echte Sorgen. Ich hatte sie am Weg zur Arbeit frühmorgens schon entdeckt. Es war nun nur eine Frage der Zeit, bis wir an diese Stelle kamen, denn sie wollte die Kreise erweitern, unsere Märsche wurden somit länger.
Längst trugen wir flaches Schuhwerk, nichts sollte uns an einem schnellen Abgang hindern, falls nötig.
Sie war wie hypnotisiert von der neonblauen Schrift in mehreren Metern Höhe. Wie konnten sie nur! „Heute Großes Finnale“ stand da in Riesenlettern. Das war zu viel.
Sie kletterte hurtig das Gerüst hinauf, ich hatte keine Chance, sie daran zu hindern. So schnell sie konnte, nahm sie die Querstangen. Ich sah von unten hinauf, meine Höhenangst hinderte mich daran, es ihr gleichzutun, abgesehen von meiner momentanen Unfähigkeit, mich zu bewegen, auch nur irgendetwas zu sagen, ihr abzuraten.
So blieb mir nichts anderes übrig, als zuzusehen, wie sie sich in die schwindelerregende Höhe begab, ungesichert, in Lebensgefahr.
Sie konnte das zweite „n“ links unten ergreifen, versuchte, es aus der Verankerung zu reißen. Was sie mit dem „G“ vorgehabt hätte, werden wir wohl nie erfahren, denn sie missachtete völlig, dass die Buchstaben verkabelt waren, also unter Strom standen. An den Rest kann ich mich nur noch bruchstückhaft erinnern, das sei der Schock, meinte mein Therapeut, es kann noch lange dauern, bis die Erinnerung auftaucht, mir ist es ohnehin lieber, sie kommt nie wieder.
Der Psychotherapeut, unser Doppel-Doktor von damals, sagte auch, ihre Zwangsfixierung sei gar nicht so selten und die Zahl der Betroffenen im Steigen begriffen, seit die Rechtschreibung allgemein immer schlechter werde. Mit seinem eindeutigen Schild habe er Menschen wie meine Freundin ansprechen wollen, um ihnen zu helfen. Warum hat sie sich nie bei ihm gemeldet? Warum habe ich nichts in dieser Richtung unternommen? Er hätte das Schlimmste vielleicht verhindern können… Er meinte zwar, ich solle mir keine Vorwürfe machen, aber wie kann ich das?

Sie muss gefallen sein, ich muss geschrieen haben, die Rettung muss verständigt worden sein, das wurde mir nachher erzählt. Das „n“ leuchtete nicht mehr. Ihr Finale war in diesem Fall ein richtiges, allerdings ein Großes.

(Wer es lieber weniger brutal hat, kann sie auch gerne am Leben lassen, das ist ganz einfach zu bewerkstelligen, durch Weiterlesen nämlich:)

Nach ein paar Tagen durfte ich sie besuchen. Sie war im Krankenhaus, kaum aus ihrer ersten Ohnmacht nach dem Fall erwacht, in einen künstlichen Tiefschlaf versetzt worden. Da ihre Verletzungen gravierend waren, wurde das als notwendig erachtet. Außer Knochenbrüchen und zahlreichen inneren Verletzungen waren auch gröbere Ausfälle, was ihr Erinnerungsvermögen betraf, zu befürchten.
Nach einigen Wochen war es so weit, sie wurde aus den Tiefen ihrer Bewusstlosigkeit geholt.
Gespannt warteten ein Ärzteteam und ich auf die ersten Worte; es kam lange nichts.
Sie plagte sich, mit dem Sprechen zu beginnen.
Auf der Intensivstation war nur ein weiteres Bett ihr gegenüber belegt, dieses hatte eine Tafel angebracht, auf der mit der Hand geschrieben stand „Intensivbeobachtug“.
Als sie den Kopf ein wenig drehte, mich anlächelte und auf meine Frage, wie es ihr gehe, meinte: „Alles völlig in Ordnung“, da wusste ich: Es war vorbei. Das war das Ende der Korrektorin.


(Und wer es noch positiver mag, der kann sich gerne der nächsten Zeilen bedienen:)

Sie genas vollständig. Bis auf das Nichtfunktionieren dieses analytischen Zentrums, das, seit sie lesen gelernt hatte, alles Fehlerhafte sofort herausgepickt und ihr zum Fraß vorgeworfen hatte: Jene Gabe war unwiederbringlich verloren.
Andere würden ihre Rolle einnehmen müssen. Sie bedauert nichts.

Carmen Rosina

Text veröffentlicht in: Die Zeitgenossin, Heft 11

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