Sister
Lens Parka von oben bis unten zuknöpfen. Die Kapuze über deinen Kopf und tief in die Stirn ziehen. Seinen langen Schal ein paar Mal über den Hals und deine untere Gesichtshälfte schlingen. Dankbar sein, dass es eisig kalt draußen ist, und du dich dementsprechend vermummen kannst.
„Ich gehe jetzt, bis später“, rufst du, durch den Schal gedämpft, Richtung Wohnzimmer. Keine Antwort. Du seufzt, zögerst, gehst dann ins Zimmer. Stellst dich neben deinen Vater, der sich, tief im Ohrensessel versunken, wieder mal irgendeine Doku im Fernsehen ansieht – oder vorgibt, es zu tun.
„Papa, ich gehe jetzt“, sagst du.
Er schreckt auf, räuspert sich. „Ja. Wohin denn, Kind?“
„Ach, unwichtig“, murmelst du in den Schal.
„Weißt du, Lea, wir sind so froh, dass du – trotz allem – “ Er beendet den Satz nicht.
Ein unangenehmer Lachreiz steigt in dir hoch. Wegen dem absurden ‚so froh‘. Dem ‚wir‘.
‚Wen meinst du denn mit ‚wir‘, Papa? Den Fernseher und dich?‘, würdest du gerne fragen.
„Ich meine, deine Mama und ich sind – “ Wieder stockt er mitten im Satz.
‚Deine Mama und ich‘, echot es in dir ‚ – miese Wortwahl.‘
Genauso mies, wie alles seit drei Wochen und zwei Tagen ist. Seitdem du ein Einzelkind bist. Seitdem es anstatt Mama nur mehr eine Art Schattenmama gibt. Die beinahe den ganzen Tag in ihrem verdunkelten Zimmer auf dem Sofa liegt, schläft – oder vorgibt, es zu tun. Die Pillen, die sie nimmt, machen sie lethargisch und dauermüde.
„Schon gut, Papa, ich weiß“, sagst du, legst ihm kurz die Hand auf die Schulter, und gehst.
Ja, du weißt. Dass deine Eltern erleichtert sind, dass du so tapfer, so stark bist – oder vorgibst, es zu sein. Dass du jeden Wochentag zur Schule gehst – oder vorgibst, es zu tun. Dass du dich mit Freund:innen triffst – oder vorgibst, es zu tun. Du weißt, dass sie beide nicht die Kraft haben, genauer nachzufragen, nicht die Kraft, sich um dich zu kümmern. Zu schwer, zu erdrückend ist die Trauer, an der sie, jeder für sich, tragen. Papa vor dem Fernseher. Mama im dunklen Zimmer.
Du gehst jetzt Richtung U-Bahn und bist erleichtert, weil sich soeben eine erholsame Leere anstelle der furchtbaren, intensiven Gefühle, die dich seit Wochen beherrschen, in dir einstellt. Die Psychologin hat letztens gefragt, ob du über diese Gefühle reden möchtest. Du hast eisern geschwiegen. Es reicht dir doch so was von, sie aushalten zu müssen, wozu um Himmels willen auch noch über sie sprechen!?
Über den Schmerz: Weil Len tot ist.
Über die Distanziertheit: Zu Eltern, Verwandten, Freund:innen. Seit Len tot ist.
Über die Einsamkeit: Mitten unter Menschen, egal, ob Fremde oder Freunde. Seit Len tot ist.
Über die Wut, den Hass: Auf dich. Auf alle Menschen. Weil ihr lebt und Len tot ist.
Über die Wut, den Hass: Speziell auf Jonas. Mit dem du dich jetzt treffen wirst. Und schon steigen sie wieder in dir empor, diese beiden schrecklichen Gefühle, verbünden sich mit den Gedanken, die ständig in deinem Kopf kreisen:
Warum nur ist Jonas, der Führerscheinneuling, an diesem Freitag trotz des drohenden Unwetters mit Len ins Auto gestiegen? Du siehst den sich verdunkelnden, den beinahe schwarzen Himmel wieder vor dir. Siehst die Äste an den Bäumen, die sich unter dem aufkommenden gewaltigen Sturm biegen, brechen. Und dann – der plötzlich einsetzende Hagel! Ein Hagel, von dem noch heute entsetzt gesprochen wird. Mensch und Natur waren ihm hilflos ausgeliefert – so wie du seit diesem Tag deinen quälenden Emotionen. Nie zuvor in dieser gewaltigen Dimension erlebt. – Babyfaustgroße Eisklumpen. – Umgeknickte Sträucher und Bäume. – Unzählige Schäden an Fahrzeugen, Gebäuden, Hausdächern. – Unfälle. Viele Verletzte. Und ein Toter. Len.
Jonas hat die Kontrolle über sein Auto verloren. Es ist frontal gegen einen Baum geprallt. Warum hat Jonas überlebt und Len nicht? Warum hattest du ausgerechnet an diesem Tag Migräne? Sonst wärest du bestimmst mitgefahren, dann wärest vielleicht du tot und Len würde um dich weinen …
Obwohl: Weinen? Du kannst nicht weinen. Die Psychologin hat gemeint, das wäre der Schock. Tolle Erkenntnis. Sowieso wirst du nicht mehr zu ihr gehen, seit ihrer Aussage in der letzten Therapiestunde. Sie hat dich professionell – unterstellst du ihr – mitfühlend angeschaut, und, bemüht vorsichtig, gesagt: „Vielleicht ist es zu früh, das zu sagen, aber glaube mir, Lea, irgendwann wirst du dankbar sein für die sechzehn Jahre, in denen du mit deinem Zwillingsbruder so viel Schönes und Unvergessliches erlebt hast.“
In dir hat es geschrien: ‚Was redest du da für Scheiße! Sechzehn Jahre sind viel zu wenige! Ich will, dass er lebt! Ich will ihn wiederhaben! Jetzt, hier, neben mir! Sofort!‘
Bei diesen Gedanken platzt du fast vor Schmerz. Nie wirst du Jonas verzeihen können! Auch, wenn er im Mail, in dem er dich um das heutige Treffen gebeten hat, geschrieben hat, dass er jede Nacht Alpträume vom Unfall habe, von dem unfassbaren Hagelsturm, der sein Auto, der Len und ihn – im wahrsten Sinn des Wortes – aus der Bahn geworfen hat; dass er sich die ärgsten Vorwürfe mache; er traumatisiert, todtraurig sei, dass dein Bruder – sein bester Freund verunglückt ist.
‚Was erwartet er sich denn?‘, denkst du bitter. ‚Dass ich ihn tröste? Dass ich ihm verzeihe? Unmöglich. Er ist schuld daran, dass Len tot ist, und das werde ich ihm ins Gesicht sagen …
Aus jetzt! Stehen bleiben. An die Mauer lehnen. Die Augen schließen. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Jetzt einen Fuß vor den anderen setzen. Und langsam, Stufe für Stufe, hinunter zur U-Bahn-Unterführung.‘
Unten gehst du um die Ecke, und siehst John. Möchtest sofort umdrehen und flüchten. Verfluchst dich innerlich, weil du nicht daran gedacht hast, dass du ihm begegnen wirst. John ist immer um diese Zeit hier. Es ist zu spät, um wegzulaufen. Sein Gesicht strahlt auf, als sich eure Blicke treffen, nimmt dann aber sogleich einen besorgten Ausdruck an. Schnell willst du an ihm vorbeigehen.
„Hello Sister“, hörst du John wie immer zu dir sagen. Wenn er wüsste, was diese beiden Worte in dir auslösen. ‚Ich bin keine mehr! Bin keine Schwester mehr, keine Schwester mehr!‘, schreit es in dir. Der Schmerz ist unerträglich. Nie wieder wirst du ‚Hi, Schwesterherz‘ von Len auf dem Display lesen, nie mehr sein scherzhaftes ‚Na, kleine Schwester?‘ hören, wenn er betonen will, dass er ein paar Minuten vor dir auf die Welt gekommen ist …
Du schmeckst Salziges auf deinen Lippen. Registrierst, dass du direkt vor John stehst und weinst. Das erste Mal weinst, weinen kannst, seitdem das Unglück passiert ist. Im denkbar ungünstigsten Moment. In einer belebten U-Bahn-Station. Kannst es nicht verhindern. John legt seine Zeitungen zu Boden, öffnet seine Arme. Du schluchzt, heulst, rotzt in seinen rauen Jackenstoff. Er hält beschützend seine Arme um dich, sagt nichts, lässt dich weinen.
Bilder blitzen durch deinen Kopf: Len und du als Volksschulkinder, als ihr auf eurem Schulweg wochentags an John vorbei zur U-Bahn gegangen seid. Johns fröhlicher Gruß jeden Tag: ‚Hi, my little Friends! Hello Sister! Hello Brother!‘ Len, der mit John scherzt und lacht. Len als Elfjähriger, der vor eurer Klasse ein Referat hält. Thema: „Ein Mensch, den ich bewundere.“ Len erzählt von John, dem Straßenzeitungsverkäufer. Der immer freundlich und heiter ist, obwohl er unvorstellbar Grausames erleben musste. Der als Jugendlicher seine gesamte Familie im Krieg verloren, als Einziger überlebt hat, allein aus seiner Heimat flüchten musste. Du erinnerst dich, dass es mucksmäuschenstill im Klassenraum war, als Len sein Referat mit den Worten beendete: ‚Ich bewundere John, und ich mag ihn sehr.‘
Du löst dich nun aus Johns schützender Umarmung. Er fragt nicht, sieht dich nur still an. Du putzt dir die Nase, dann bricht es stotternd aus dir heraus: „Es war – es war ein Autounfall. – An dem Tag, als das Unwetter – als es so furchtbar gehagelt hat … – Len ist tot. Er ist tot.“
Nun weint ihr beide. Später dann, als du gehst, ruft John dir mit fester Stimme nach: „You are not alone, Sister. Don’t lose hope.“
In der U-Bahn schauen dich ein paar Leute verstohlen an. Weil du nach wie vor weinen musst. Du nimmst ein Taschentuch an, das dir jemand reicht. Schämst dich nicht deswegen. Denkst an John. Ob er von Lens Referat über ihn weiß? Du wirst es suchen, kopieren und ihm geben. Bestimmt wird ihn dies freuen. Wie ist es möglich, fragst du dich, dass er trotz seiner Schicksalsschläge ein so herzlicher, fröhlicher Mensch ist? Seine Positivität wirkt nicht aufgesetzt, sie ist echt. Wie hat er es geschafft, den Verlust seiner Geschwister und Eltern zu bewältigen?
‚Meine Eltern leben, ich lebe‘, denkst du, und dann an Johns Worte, die er dir nachgerufen hat. Unerwartet flammt tatsächlich ein kleiner Funke Hoffnung in dir auf, die leise Hoffnung, dass vielleicht doch langsam alles wieder etwas leichter, etwas lichter werden könnte. Für deine Eltern und dich, für alle, die um Len trauern.
Gleich wirst du bei der U-Bahn-Station ankommen, bei der du aussteigen musst. In Kürze also wirst du Jonas gegenüberstehen. Du trocknest noch einmal dein Gesicht, steckst das Taschentuch ein, atmest tief durch. Du wirst Jonas sagen, dass er und Len nicht wissen konnten, dass das Unwetter an diesem Freitag derart heftig werden würde, als sie sich ins Auto setzten. Dass weder deine Eltern noch du ihm Vorwürfe machen würden, und er sich ebenfalls keine machen solle. Das würde Len auf keinen Fall wollen.
Beim Aussteigen aus der U-Bahn rempelt dich versehentlich ein Junge an. Er hat lange, dunkle Dreadlocks. Solche, wie Len sie trug. „Ups, sorry“, lächelt dich der Junge entschuldigend an. Spontan lächelst du ebenfalls. Es ist ein echtes Lächeln.
Claudia Dvoracek-Iby
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