Reflexionen in der U-Bahn

Er mag sie ja alle, die Dicken, die Dünnen, sogar die, die so aufdringlich riechen. Ihm macht es nichts, wenn sie fluchen, meckern, sich zieren und unmöglich benehmen. Ob die Frau da drüben wirklich meint, was sie sagt? Er ist ihr nicht böse, und wenn sie noch so Herzloses von sich gibt.
Eigentlich versteht er sie alle. Das Leben ist kein Honiglecken. Wer sich darüber beschwert, war immer schon im Recht. Und diese so genannte Fahne, die so viele um diese Zeit hier vor sich hertragen, der Geruch nach Alkohol, nur zu verständlich. Ein Tröster in der Not. Wer kennt das nicht?
Ein Unmensch, wer glaubt, über andere urteilen zu dürfen. Was weiß er schon von deren Schicksalen?
Die Einsamkeit, die tut das ihre dazu. Da werden die Menschen nun einmal eigenartig. Einzigartig waren sie vorher, eigenartig werden sie mit der Zeit, mit dem Alleinsein ganz von alleine.
Er sinniert gerne, so in der U-Bahn. Die ist ein Symbol für ihn: Um irgendwo anzukommen, wo man hin möchte, muss man zuerst einmal ganz hinunter.
Er fährt gerne einfach so durch den Untergrund. Das Grübeln kommt da ganz von selbst.

Ihm gegenüber sitzt ein Mann, dem man anmerkt, dass er früher viel trainiert hat, das erkennt er auf den ersten Blick. Er hat einen breiten, fülligen Oberkörper. Die Oberarme stehen leicht davon ab, sogar im Sitzen. Er muss seine muskulösen Arme im Schoß verschränken, damit sie nicht seitlich an andere Fahrgäste stoßen. So sitzt er da, irgendwie eingeklemmt in sein eigenes Dasein, sich selbst zu viel, und bemüht, anderen nicht im Weg zu sein.

Was die anderen von ihm halten mögen? Ein Spiegel-Affe, denken sie sich vielleicht, ein Körperfetischist, der nichts im Kopf hat außer Trainieren.
Er aber denkt nicht so über sein Gegenüber. Bestimmt hat auch dieser Mann eine Geschichte, die zu erzählen lohnt. Er will nicht nach dem Äußeren urteilen, das machen schon viel zu viele andere. Ob er die Vorurteilsbehafteten auch leiden kann, wo er doch alle Menschen mag, darüber will er bei seiner nächsten U-Bahn-Fahrt nachdenken, alles der Reihe nach.

Er betrachtet also sein Gegenüber, das groß und fehl am Platz die anderen Fahrgäste fast schüchtern aus den Augenwinkeln ansieht, einen nach dem anderen, auch ihn selbst, den er nun am Fenster gegenüber entdeckt hat. Beinahe scheint der Koloss hoffend, dass sie alle, alle anderen, ihm nichts antun, ihn in Ruhe hier sitzen und schauen lassen. Ihn nicht anreden, ihm nichts vorhalten, ihn mit nichts konfrontieren. Der Mann wirkt nervös, Schweiß bildet sich auf seiner breiten Stirn. Oder bildet er sich das ein?

Der große Mann sieht freundlich aus, und wenn er nicht gerade umherschweift, ist sein Blick ein wenig verloren, wie der eines tagträumenden Kindes. Nachdem er alle anderen Mitfahrenden gemustert hat, wandert sein Blick schneller im Abteil umher. Wonach sucht er denn? Kann er ihm helfen? Fährt er etwa ohne Fahrschein mit und ist deshalb so unruhig? Er wird den Mann nicht danach fragen. Der will seine Ruhe haben, keine Frage.
Er kennt das ja von sich selbst zur Genüge. So viele Wohlmeinende, die mitmischen, sobald man eine Rückzugsphase hat. Oder eine schlimme, egal. Das stört wirklich, nur die Wenigsten wissen, wann es genug ist mit diesen Ratschlägen, die keiner braucht.

Der Mann gegenüber fährt nun schon einige Stationen lang mit, und das Spiel wiederholt sich. Es steigen Menschen ein und aus, welche mit Kindern (um diese Zeit?), andere mit Hunden, sogar ein Mann mit Katze ist dabei. Und der Mann betrachtet sie alle, schüchtern, hektisch, als wären sie eine im Dunklen lauernde Gefahr, die er noch nicht abschätzen kann. Die Augen schießen hin und her, sobald eine neue Station erreicht ist. Noch sitzt er, aber er wirkt jederzeit bereit zum Sprung.
Jetzt ist er, der ihn vom Gang gegenüber Beobachtende, sicher, dass der unruhige Riese weder Fahrkarte noch Geld hat. Daher die Nervosität, verständlich, auch das ist ihm selbst nicht fremd.

Es wird Zeit, auszusteigen, er erhebt sich und wirft noch einen Seitenblick auf sein Studienobjekt gegenüber. Erstaunt nimmt er wahr, dass auch dieses aufsteht, zeitgleich mit ihm. Er blickt ihm direkt in die Augen, nur eine schwache Reflexion des Fensterglases im Licht des Abteils nimmt ihm die letzte Illusion.
Sie gehen beide gleichzeitig, natürlich spiegelverkehrt, wenden sich dem Ausgang zu, nicht ohne sich noch einen verschämten Blick zugeworfen zu haben.
Sie beide wissen von einander, aber für alle anderen hier verlassen sie die U-Bahn als ein und die selbe Person.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 14067