Wie der russische Geheimdienst den Schriftsteller W. Somerset Maugham anfütterte

Im Sommer und Herbst 1916 stand die Entente auf der Kippe. Die Lage der zaristischen Truppen an der Ostfront war dramatisch, und die britische Krone befürchtete, dass der Zar unter dem Druck der Mittelmächte die Seiten wechseln könnte. Dazu drängte der undurchsichtige Wanderprediger und Wunderheiler Rasputin die Zarin, und diese den Zaren, den Krieg zu beenden. Die Mittelmächte, Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich, hatten natürlich Kenntnis davon, dass die Forderungen des russischen Volkes nach Brot und Frieden (chleb i mir) auf den Straßen St. Petersburgs und Moskaus immer lauter wurden. Die bolschewistische Agitation fiel auf fruchtbaren Boden. Das deutsche Kaiserreich arbeitete daran, mit Russland einen Separatfrieden auszuhandeln. Das musste aus Sicht der Entente unter allen Umständen verhindert werden, die russischen Truppen mussten weiterkämpfen, auch wenn sie schlecht ausgerüstet waren, zu wenig Waffen hatten, Hunger litten und an Seuchen starben wie die Fliegen. Ein Separatfrieden mit Deutschland würde bedeuten, dass eine halbe Million deutsche Soldaten an der Ostfront freigesetzt und an die Westfront verlagert werden könnte. Das wäre der Todesstoß für die Entente gewesen. Deutschland wäre in der Lage gewesen, die anglo-französischen Fronten zu überrollen.

Da kam das Intelligence Department ID, der britische Auslandsgeheimdienst, der spätere MI 6, auf die Idee, der Botschaft Seiner königlichen Majestät in St. Petersburg eine Geheimwaffe beizustellen. Wer diese Blitzidee hatte und warum die Wahl gerade auf diesen Mann fiel, geht in den wirren Wogen der Geschichte unter. Auf jeden Fall wurde der als erfolgreicher Theaterschriftsteller bekannte W. Somerset Maugham vom ID Ende 1916 bis Oktober 1917 als Geheimagent nach St. Petersburg beordert. Er hatte zuvor schon kurz in Italien, der Schweiz und in den USA gedient, aber über Russland keinerlei besondere Kenntnisse. Er verfügte neben Englisch und Französisch auch über gutes Deutsch, hatte er doch ein Studienjahr mit Literatur und Philosophie in Heidelberg verbracht. Später wandte er sich von diesen Studien ab, studierte auf Druck seines Onkels und Vormunds erfolgreich das Fach der Medizin und schloss es am Londoner King’s College ab.

Mit einem Theaterstück über ein Londoner Armenkrankenhaus verdiente er sich seine ersten literarischen Sporen, handelte sich einen Theaterskandal, aber auch Geld und Berühmtheit ein. Bei Kriegsbeginn 1914 machte er Dienst beim Roten Kreuz, wo ihn der britische Geheimdienst rekrutierte. Er wurde nach Italien, in die Schweiz und in die USA geschickt.
Warum ein bekannter Schriftsteller, der in allen Klatschspalten zu Hause war, sich zum Geheimagenten eignete, wird wohl nie zu enträtseln sein. Nichts in aller Welt hatte William Somerset Maugham dazu prädestiniert, einen Beitrag zum alliierten Sieg zu leisten. Nach dem frühen Tod seiner Eltern steckte ihn sein Onkel und Vormund in ein rigides englisches Internat. Somerset Maugham war lange Zeit Bettnässer und Stotterer.

In London verstummten nie die Gerüchte, dass W. Somerset Maughams Spionagetätigkeit durch die homophilen Neigungen eines Vorgesetzten befördert worden sein soll. Es kann etwas dran sein, lebte er doch nach dem Krieg in seiner Villa an der Côte d’Azur offen mit seinem Sekretär zusammen. Dass er gleichzeitig von der russischen Geheimpolizei und vom amerikanischen Geheimdienst überwacht wurde, ist erst viel später herausgekommen. Auch deutsche Quellen reklamieren Maughams Aktivitäten für sich.

Die Aufgabe der britischen Heeresführung war es, nach der Abdankung des Zaren und der Februar-Revolution die provisorische Regierung von Großfürst Lwow und Alexander Kerenski an der Seite der Entente zu halten und einen Separatfrieden mit den Mittelmächten unter allen Umständen zu verhindern. An der Seite des britischen Botschafters bereiste Maugham alle Fronten, von Riga im Norden, Mogiljow, dem Hauptquartier der russischen Armee in Weißrussland bis nach Südosten an die rumänisch-ungarische Front.
Agent 007 verfasste viele Berichte, sehr viele Berichte an das ID, über die Lage der russischen Armee, vom Zustand der Waffenproduktion in den Munitionsfabriken, des Nachschubs und den Massenprotesten gegen den Krieg.

Allein aufgrund der Anzahl der Berichte vermutet man, dass der Spion Maugham mehr an seinem Schreibtisch gesessen sein muss als im Terrain unterwegs gewesen zu sein. Nach der Oktoberrevolution kehrte er nach London zurück, heiratete eine reiche Erbin, sie bekamen eine Tochter, und er begab sich jahrelang auf Reisen durch das British Empire: Indien, Südost-Asien, China, durch die Karibik und Südamerika. Er veröffentlichte zahlreiche Reiseerzählungen in Massenauflagen, meistens mit „Englishmen abroad“ als Helden. Faszinierende, funkelnde Welten mit viel Lokal- und Zeitkolorit, meist in britischen oder französischen Kolonien. Er wurde noch reicher und berühmter.

1928 ließ er sich scheiden. Da brachte er seinen halb-autobiografischen Roman „Ashenden. Or The British Agent“ (Der Abstecher nach Paris) heraus, in dem er aus dem Nähkästchen seiner Agententätigkeit in ganz Europa plaudert. Eine Arbeitsanleitung für Spione zwischen der Entente und den Mittelmächten. Aber nicht nur von den Fronten, sondern aus den Palästen und Bordells in St. Petersburg in den letzten Wochen des Zarenreiches und den wenigen Monaten bis zur Oktoberrevolution. Der Tanz auf dem Vulkan im sterbenden Imperium, Paläste und dunkle Gassen, Intrigen, Morde, Gelage, Geheimdiensttätigkeiten, höchste Adelskreise, Mätressen, Balletteusen und Huren in Zigeunerkaschemmen, Verfolgungsjagden in Pferdeschlitten, Verhaftungen, Feme und Aberglauben, revolutionäre Arbeiter und Verschwörungen. Eine wilde Mischung von Ereignissen, Figuren und Erfindungen aus dem Fegefeuer des Weltuntergangs.

Möglicherweise wird niemand erfahren, was selbst erlebt und was ausgedacht ist. Manche Informationen werden ihm von der russischen Geheimpolizei angefüttert worden sein, manches wird er gekauft haben. Er verbrachte viele Nächte in den großen Hotels und deren Hinterzimmern, im Astoria, im L’Europe und im Kempinski, in Künstler-Cafés und Homosexuellen-Treffs, im Streunenden Hund und im Grünen Kakadu. In beiden Kulturen gleich zu Hause, galt er als Inbegriff des englischen Gentleman und des eleganten Parisers. Er kam bei beiden Geschlechtern gleich gut an und war von seinen Auftraggebern mit reichlichen Mitteln ausgestattet. Erst lange nach dem Krieg kam heraus, dass er in seiner Petersburger Zeit auch für den amerikanischen Geheimdienst tätig war. Der russischen Polizei war das bekannt, ebenso dem deutschen Geheimdienst, sie ließen ihn aber gewähren. Mr W. Somerset Maugham war einfach zu unwiderstehlich und zu prominent.

Das meiste ist wahrscheinlich erfunden. Aber das Londoner Publikum war verrückt nach solchen Blut- und Mantel-Geschichten, Unterhaltungsliteratur auf höchstem Niveau: Mit schmallippigem Humor, kritischer Distanz und subversiver Skepsis gegenüber der Wahrheit, gleichzeitig realistisch und lebensnah, baut er jede seiner Figuren zu einem Juwel an Menschenzeichnung aus. Seine Erzählungen versprühen die Atmosphäre der Kolonien kurz vor und nach dem Ersten Weltkrieg, er zeichnet eine Fülle an funkelnder Personage, von Militärs bis zu Sträflingen, von Schiffspassagieren bis zu Bordelldamen, von britischen Touristen auf Capri bis zu windigen Abenteurern, von Bankern bis zu Bankräubern. Es ist billigster Trash und Kitsch, aber meisterhaft erzählt. Er lässt alles offen und mutet das Urteil seinen Lesern zu.

Warum ich nach Jahrzehnten wieder auf W. Somerset Maugham gestoßen bin: Einmal lag im Vorhaus auf dem Fensterbrett, wo die Bewohner das hinlegen, was sie nicht mehr brauchen, aber nicht gleich wegwerfen wollen, was für andere vielleicht einen Wert haben könnte, das Diogenes-Bändchen „Winterkreuzfahrt“ von W. Somerset Maugham, gesammelte Erzählungen, Band IX, 1972. Ich las es durch, kaufte alles von ihm und war bis Band XVII fasziniert. Dann habe ich ihn natürlich gegoogelt und wurde immer weiter hineingezogen in diese schillernde, untergegangene Welt des British Empire.

Bei mir ist der Eindruck entstanden, dass W. Somerset Maugham kein angenehmer Mensch war. Böse Äußerungen über seine geschiedene Frau, über die Dummheit seiner Leser, der erbitterte Streit um die Tochter und seine große Flexibilität bei der Spionagetätigkeit deuten mehr als deutlich darauf hin. Aber moralische Urteile dürfen nie den Blick auf den künstlerischen Wert eines Werks verstellen.

Ich habe nach und nach alles gelesen und weiter recherchiert, auch in der Biografie. In meiner eigenen Bibliothek habe ich nach Maugham gesucht und seinen letzten Roman „Catalina“ gefunden, ein zerlesenes Bändchen, wahrscheinlich auch aus einer Wühlkiste. Ein Schauerroman aus der spanischen Inquisition.

Mit Ashenden war ein neuer Heldentypus geschaffen: der Geheimagent Seiner Majestät, (Bond. James Bond), lebenslustig, liebeswütig, gesetzlos, moralfrei. Keine Geringeren als Graham Greene, Eric Ambler und Ian Fleming bekennen, dass sie in ihrer Jugend von Ashenden begeistert waren und zum Schreiben in seiner Art angeregt wurden. Grelle Antagonisten – gut gegen böse – dazwischen ist alles erlaubt und möglich im Kalten Krieg. John le Carré war so sehr initiiert, dass er dem MI 6 beitrat. Auch er hatte vorher in Deutschland Philosophie und Literatur studiert. Maugham wiederum soll von Joseph Conrads „Das Herz der Finsternis“ beeinflusst worden sein, von dem anglisierten Polen Jozef Teodor Nalecz Konrad Korzeniowski.

James Bond hat seine Wurzeln in St. Petersburg und nicht in der Karibik.

Nach diesem sensationellen Erfolg von Mr. Ashenden kaufte W. Somerset Maugham die frühere Villa des belgischen Königs Leopold II. auf Cap Ferrat bei Nizza, wo er sich zusammen mit seinem Geliebten und seiner exzellenten Kunstsammlung einrichtete. Dieser selbst könnte mit seiner Karriere als Fälscher, Schwindler und Dieb eine Erfindung des Autors gewesen sein, mit sowohl proletarischer als auch kolonialer Vergangenheit. Mit seiner geschiedenen Frau stritt er 30 Jahre lang um die Erziehung ihrer gemeinsamen Tochter. Sein letzter Partner prozessierte noch nach dem Tod des Schriftstellers gegen die Tochter um das Erbe.

Meine Lehre ist: Literatur ist stärker als Spionage. Ein Autor hat aus seinem Leben ein Gesamtkunstwerk geschaffen.

23.12.21, beendet 31.1.22

Veronika Seyr
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