Zwischen Ernst und Sarkasmus. Anne Mary Evans / George Eliot zum 200sten Geburtstag am 22. November 2019

Und hätte sie nur diesen 1871 erschienenen Roman geschrieben, wäre ihr doch ein herausgehobener Platz im englischen Literaturgeschehen des 19. Jahrhunderts sicher. Sie besaß ihre Stellung bereits zu Lebzeiten, wenn auch naturgemäß nicht unwidersprochen, und sie behielt sie bis dato: Gerade dieses Buch soll erst vor wenigen Jahren von zahlreichen Anglisten zum besten seiner Epoche gerechnet worden sein.
Der Autorin eignende gesellschaftliche Unstimmigkeiten von mehrfacher Selbstbenennung bis zu einer «wilden Ehe», die als Makel ihren Ruf im puritanischen Umfeld erheblich beeinträchtigten, wirken aus heutiger Sicht kaum mehr kompromittierend. Und doch spielten diese Rankünen durchaus eine literarische Rolle, denn zum einen benutzt sie immer wieder von neuem ein männliches Pseudonym, vornehmlich den George Eliot, zum anderen verarbeitet sie aus einem deutlichen Beobachterinnenstatus heraus das Verhalten der bürgerlichen Sozietät in ihrem Werk.

Einen gedanklichen Hintergrund stellte ihre Beziehung (über Richard Owen) zu den «Freidenkern» dar, der zu ihrer Übersetzung von D.F. Strauß und L. Feuerbach ins Englische führte. Ihr geht indessen missionarischer Eifer ab: Bei einzelnen beschreibenden Passagen des Buchs weiß man nicht recht, inwieweit die Bewertungen nun effektiv im direkten wörtlichen Sinn gemeint sind oder doch nicht ganz so ernst: britischer Humor eben.

Das hier im Fokus stehende oder besser: liegende Opus hat es wahrlich in sich: Schon äußerlich beindrucken die gut 1100 Seiten (im «normalen» Buchformat). Über die ganze Länge wird eine übersichtliche Gruppe der Handelnden in kleinstädtischem Umkreis und begrenztem zeitlichen Rahmen weniger Jahre vorgestellt; Abweichungen (wie eine Romreise) erscheinen nur peripher, freilich als spezifisch figurenbezogen verifiziert. Obwohl die Vorgänge sich verweben, verwirren sie sich kaum und bleiben über die gesamte Abfolge übersichtlich.
Demgemäß legt die Autorin den höchsten Wert der Ausführungen auf die Entwicklungen ihrer Gestalten, in denen, mittels eines ungeachtet der laufenden Erzählung deutlich auktorialen Sich-Hineinversetzens, nachdrücklich die innere Haltung das Handeln bestimmt. Konsequent stehen diese Personen abwechslungsweise im Fokus der Erzählung, einzelne – nicht zuletzt Frauen – in ihrem im doppelten hintergründigen Sinnieren und somit als eigentliche Handlungsträger herausgehoben.

Wobei sich die Roman-Handlung primär auf die Beziehungswelten, zu Sachfragen ebenso wie zu den Mitmenschen, bezieht und in zahlreichen Dialogen zu Wort kommt. Hierin zeigt die Autorin, wie erheblich sie von den vorangehenden anderen spezifisch femininen Sichtweisen in der englischen Literatur beeinflusst ist, etwa von Jane Austens älteren antipodisch aufgebauten Entwicklungsromanen und namentlich der Brontë-Schwestern jüngeren romanhaften Zuspitzungen. Indem sie noch zu der Schwestern-Generation gehört (!), ist es kaum ein Zufall, wenn Anne Mary Evans beim Schreiben trotz des erheblichen zeitlichen Abstands sich in etwa die selbe Epoche vornimmt. Dadurch erweisen sich (im heutigen Rückblick aus Mitteleuropa) viele inhaltliche Abhandlungen als in hohem Maß für die 1830er Jahre zeitgebunden, so insbesondere der Dauerschatten der Parlamentswahl im Gezerre von Torys und Whigs sowie die Frage medizinischer Forschung jenseits akademischer Institutionen.

Dass die Personen nicht nur in Verhaltens-, Sprach- und, kaum vermeidbar, Kleidungsfragen, sondern letztlich in ständigen ständischen Beziehungs- und Zuordnungsfragen stark dem Milieu und Jahrzehnt verquickt verbleiben, erstaunt beim Lesen demnach weit weniger. Andererseits, und darin liegt ein spürbarer Unterschied, beurteilt A.M.E. resp. G.E. die damalige Gesellschaft eben aus der Distanz von vier Jahrzehnten: Wobei die Gegenwart der streng viktorianisch geprägten Epoche von der Autorin offenbar nur graduell verstanden wird.
Zumindest auf diese Weise erklärt sich (für mich) der Untertitel A Study in Provincial Life, «Studie» dabei als Tableau in der (notwendig?) ausschnittsweisen Komposition verstanden und den Sinn des Haupttitels erheblich beeinflussend: Middlemarch, eine fiktive Kleinstadt Mittelenglands, die das erwünschte Spektrum an Aktivitäten ermöglicht, während zugleich das leicht erreichbare London den direkten Bezugsspiegel erlaubt. Eigentlicher Hauptträger des Geschehens ist somit der Kern einer Mittelschicht mit «Ausfransungen» nach oben und unten, die trotz aller Aktualitäten sich auf dem Marsch in eine spätere Jetztzeit (siehe noch einmal das Datum der Publikation) befindet.

Aus diesem Blickwinkel erscheint des Volumens Umfang nicht zu groß, obwohl im Verlauf des Lesens manches zumindest für heutige Nichtengländer etwas langatmig scheint, während umgekehrt der Schluss als Ausblick auf das Werden der Hauptfiguren etwas arg abrupt wirkt. Beides hingegen ist beileibe nicht auf dieses Buch beschränkt, man nehme sich nur einmal Thomas Manns Zauberberg vor (für den er sich den Nobelpreis erhoffte).
Es scheint also aus sozialphilosophischer Sicht durchaus eine gewisse Ausführlichkeit nötig, soll die Study nicht in eine akademische Abhandlung abgleiten, sondern in einen lebensvollen Bericht in der allzu menschlichen Atmosphäre weniger Jahre münden und in einer einfühlsamen, die jeweiligen Handlungsweisen in ihrer Bindung an Zeit, Raum und persönlichen Eigenheiten in literarischer – gut und gerne lesbarer – Schilderung verbleiben. Überdies liegt in der ansatzweisen Vorwegnahme (um im Angelsächsischen zu bleiben) späterer Entwicklungen wie Henry James’ feingliedrig-feinsinniger Schilderungen oder Virginia Woolfs innerem Monolog ein weiterer hoher Wert von Anne Mary Evans Werk.

Rund ein Jahrzehnt zuvor, 1860, veröffentlichte sie – nach journalistischer und Rezensionstätigkeit und dem (eher späten) literarischen Beginn mit Kurzgeschichten in Zeitschriften – einen zweiten, bereits sehr umfangreichen und erfolgreichen Roman Die Mühle am Floss (Anm.: Floss ist weder Floß noch Schreibfehler, sondern der Fluss-Name). Er gilt ebenso als eines  d e r  klassischen Bücher Englands. Im Grunde genommen finden sich bereits die Charakteristika des Hauptwerks von A assoziative Gedankengänge über F fiktionale aber konkret erlebbare Handlungsstätten, G starke Gewichtung inneren bürgerlichen Empfindens bis Z durch eine frühere Handlungsepoche zeitbedingte äußere Einwirkungen.
Die Palette der Personen bleibt enger als in Middlemarch, handelt es sich doch im Grunde genommen um einen Familienverband, wird aber zugleich eingehender herausgearbeitet.

Der Ernst des in sieben Teilbüchern intensiv geschilderten Werdegangs vor allem aus der Sicht eines Geschwisterpaars – vom Leben im Wohlstand über den Nieder- bis zum Untergang (darin cum grano salis ein Vorläufer von Manns Buddenbrooks) – erweist sich in der durchdringenden Darstellung, der lebensphilosophischen Auslegung, in der minutiösen Wiedergabe der Reaktionen von allerhöchster Intensität. In die weibliche Hauptfigur Maggie soll viel Autobiographisches eingeflossen sein; womöglich deshalb sind der sarkastische Unterton und die spitzfindigen (manchmal kapriziösen, manchmal bissigen) Randbemerkungen gar nicht zu überlesen – nicht zuletzt auch, weil hier die Autorin noch da und dort als auktoriale Erzählerin in Ich-Form Kommentare zum Verhältnis von gestern und heute einschiebt.
Der in der und für die Entstehungszeit wohl gerade aus seiner facettenreichen Aufführung resultierende «packende» sozial aufbereitete Durchblick in einer Mischung von Darstellung der sich entwickelnden Gegebenheiten einer- und von steter eingehender Bewertung der Ereignisse andererseits erweist sich für eine nicht «irgendwie» enger mit Britannien verbundene Leserschaft allerdings als etwas überdetailreich-ausholend, und an dieser deutlichen Temporeduktion kann die, die Gesellschaft aufspießende spitze Feder nicht viel ändern.

In die Zwischenzeit (1860 – 1871) fallen in dichter Folge zahlreiche Romane, und es schließen sich bis 1876 (vier Jahre vor ihrem Tod) weitere an, sie erreichen die darstellerische Dichte, die zielorientierte Durchführung, die eingehende Erschließung der beiden hier vorgestellten Werke aber im Großen und Ganzen nicht unbedingt.

[Insbesondere liegen dem Essay zugrunde: G.E., Die Mühle am Floss, übersetzt von Eva-Maria König, Stuttgart 1983/2000 Reclam UB 2711; G.E., Middlemarch, übersetzt von Irmgard Nickel, Leipzig 1979/Köln 2010.]

Martin Stankowski
www.stankowski.info

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