Herbstbeginn

Die Marktgemeinde Hollstein stand vor einem Scheideweg, dessen einzuschlagende Richtung gänzlich in der Hand von drei Menschen lag. Die Hollsteiner wussten davon noch nichts, sondern ließen sich in den Abendstunden jenes warmen Septembertages an der Seepromenade treiben, begleitet von den Klängen der örtlichen, preisgekrönten Musikkapelle. Später gesellte man sich im Strandbad auf den Bierbänken zueinander, aß belegte Brote oder Bratwurst und trank allerlei Alkoholisches, bis die Gelsen zu lästig wurden und das Bier zur Neige ging.

Wie jedes Jahr am 21. September, feierte man den Einzug des Herbstes sowie den Abgang der Touristen, die jeden Sommer mehr und jeden Sommer etwas ungehobelter wurden. Vereinzelt trotteten noch einige von ihnen herum, fotografierten den Sonnenuntergang oder die Mädchen im Dirndl, die Tabletts mit zehn Halben trugen, als wären nur zwei darauf. Eine Gruppe Asiaten hatte sich den Tisch direkt neben der Musik gesichert und klatschte jeden Schlager begeistert mit.

Als besondere Spezialität wurde, wie bei jedem noch so kleinen Dorffest, die Kaszuzler serviert. Entweder im Ganzen oder als daumendicke Scheiben auf einem Holzbrett, daneben Senf, Kren und ein Kornwecken. Zu Weihnachten kam die Kaszuzler neben der Leberpastete und zu Ostern zum Frühstück mit frisch gekochten Eiern auf den Tisch. Auch als Pizzabelag war sie unschlagbar: Die „Kaszuzler Pizza“ war der Verkaufsrenner beim Wirt am Dorfplatz. Was wäre der Herbsteinzug ohne Kaszuzler? Was wäre Hollstein ohne Kaszuzler?

Die Kaszuzler ist eine sogenannte Rohwurst, deren Zutaten als auch Herstellungsprozess ein allgemein bekanntes Geheimnis in Hollstein und Umgebung waren. Gewürze und Muskelfleisch im Fleischwolf dreimal durchgedreht und mit Käsespezialitäten aller Art verfeinert. Dann genau 66 Minuten über Eichenholz geräuchert. So viel wusste man – nicht zuletzt durch einen teuren Werbespot, der zur besten Sendezeit im ORF lief und in dem eine berühmte Wiener Schauspielerin aus einer berühmten Wiener Schauspieldynastie herzhaft in die Wurst biss.

Die Kaszuzlerei lag am Rande des Dorfes und war ein modernes Gebäude auf einer kleinen Anhöhe. Davor fünfzig Auto- und zehn Busparkplätze und ein großer Kinderspielplatz mit Streichelzoo. Im Erdgeschoß ein Café mit Seeblick und eine Theke, an der man sechzehn verschiedene Arten von Kaszuzler zu unterschiedlichsten Preisen erwerben konnte. Es gab Putenkaszuzler und vegane Kaszuzler mit Tofu und Soja, Kaszuzler mit Emmentaler, Gouda und Mozzarella sowie allerlei Mischformen.

Im selben Gebäude befand sich ein interaktives Museum, in dem Kinder und Erwachsene sich sowohl über Herkunft und Haltung der Tiere als auch über Produktionsbedingungen auf unterhaltsamste Weise informieren konnten. Über die genauen Details der Schlachtung (den eigentlichen Sinn einer Metzgerei) schwieg man sich allerdings aus – nur dass sie „human“ erfolgte, was auch immer das hieß.

Dahinter, einige hundert Meter entfernt, lag die Produktionshalle. Eine von zwanzig in ganz Österreich. Natürlich produzierte man hier nicht nur das Original, sondern auch andere Wurstwaren und Fleischspezialitäten, deren Verpackungen jedoch immer das Siegel der Kaszuzler trugen: ein roter Kreis mit einem gelben Quadrat darin.

Die Anfänge der Kaszuzler waren folgende: Aloisyus Gerstner und Innocentia Habermann heirateten 1918, gleich nach Kriegsende. Der Bub übernahm die Metzgerei von Hubert Habermann, Innocentias Vater, im Dezember 1921, nachdem dieser aus nicht überlieferten Gründen das Zeitliche gesegnet hatte. Vielleicht war‘s ein Schlaganfall, vielleicht ein klug geplanter und eiskalt ausgeführter Mord? Da waren den Fantasien der Hollsteiner keine Grenzen gesetzt.

Ein halbes Jahr später gab es jedenfalls die ersten Aufzeichnungen über die Kaszuzler. Ein Produkt, das durch die Freundschaft mit einer nahegelegenen Käserei entstanden war. Die Käserei gab es bald nicht mehr, aber das tat der Erfolgsgeschichte der Zuzla, wie sie die Einheimischen liebevoll nannten, keinen Abbruch.

Namensgeber, so die Überlieferung, war Karl der Erste, letzter Kaiser von Österreich. Als dieser inkognito mit seinem Auto durch Österreich Richtung Ungarn fuhr, machte er in Hollstein halt und kehrte in die Metzgerei am Dorfplatz ein, um sich eine Jause zu gönnen. Das relativ neue Produkt wurde ihm, mit einer Halben Bier und einer Semmel, serviert. Begeistert von dessen Geschmack rief er aus: Da könnt‘ ich den ganzen Tag dran zuzeln, so fein ist das! Dass die Daten nicht ganz mit den offiziellen Reiseaufzeichnungen von Karl dem Ersten übereinstimmten, tat der Popularität dieser Geschichte keinen Abbruch. So gilt bis heute die Kaszuzler als Exportschlager von Hollstein, weit über die Grenzen Europas hinaus.

Anna Innocentia Gerstner-Junker feierte am 21. September ihren neunundzwanzigsten Geburtstag mit einer Flasche Wein im Beisein ihres 94-jährigen Großvaters, der zu Beginn wie immer über die Russen schimpfte, nach zwei Achterl Wein plötzlich ganz ruhig wurde und nach einem weiteren im Rollstuhl schnarchte. In der Villa der Gerstners, nur zweihundert Meter Luftlinie von der Produktionsstätte, hatte Anna Innocentia immer ihre Kindheitssommer verbracht. Außer ihrem Großvater, zwei Pflegerinnen und einem Gärtner wohnte niemand mehr darin.  Sie besaß nun selbst einen Prachtbau auf der anderen Seite des Sees, dessen dem See zugewandte Seite fast gänzlich aus Glas bestand. Rundherum vier Hektar Grund, abgegrenzt durch eine Betonmauer.

Anna Innocentia hatte allen Grund zu feiern. Morgen würden die Verhandlungen für eine bevorstehende Fusion der Kaszuzlerei mit einem chinesischen Unternehmen beginnen. Während ihr Großvater von einer der Pflegerinnen vorsichtig aus dem Zimmer gerollt wurde, stand Anna auf, ging zum Fenster, öffnete es und sog die kühle Nachtluft ein. Vom See her wehte die Musik der Hollsteiner Kapelle, die gerade Moon River ausklingen ließ.

Irgendwo dort unten beim Fest, in der Gruppe der Asiaten, die so fleißig im Takt der Musik klatschten, saß Meng Li, CEO von Kapsui, einer chinesischen Lebensmittelfirma. Einen Tisch weiter saß Julian Angelmaier, seines Zeichens Bürgermeister von Hollstein und Verhandlungsführer im Namen seiner Schäfchen, die noch nichts von ihrem Schicksal wussten. Sie prosteten sich im Schein der bunten Lichterketten heimlich zu. Der Herbst hatte begonnen.

Nene Stark

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