Archiv des Autors: Redaktion verdichtet.at

Archiv Februar 2024

25.2.24: Michael Bauer: Mein Leben mit A.
25.2.24: Annamaria Bortoletto: So Wahrheit
25.2.24: Bernd Remsing: Sesselgedichte: Leibstuhl
25.2.24: Johannes Tosin: Der Mann, der über den Himmel schreitet
25.2.24: Johannes Tosin: Das Meer deiner Tränen
25.2.24: Bernd Watzka: Das vergessliche Lieschen oder Das vergess’ne Vergissmeinnicht
17.2.24: Claudia Dvoracek-Iby: LIES MICH!
17.2.24: Andreas Köllner: Eisblume
17.2.24: Bernd Remsing: Sesselgedichte: Reitsessel
17.2.24: Johannes Tosin: Nach drei Minuten
17.2.24: Bernd Watzka: Der poetisierte Grashalm
17.2.24: Johannes Tosin: War Talk
10.2.24: Bernd Remsing: Sesselgedichte: Biedermeier: Danhauser
10.2.24: Bernd Watzka: Ich, Lindenbaum
10.2.24: Johannes Tosin: Die Armee
10.2.24: Johannes Tosin: Acht Monate
3.2.24: Bernd Remsing: Sesselgedichte: Schreibtischsessel von Joseph II
3.2.24: Michael Bauer: Ein einziger hundert Jahre andauernder Sonntag
3.2.24: Johannes Tosin: Trockenfutter
3.2.24: Claudia Lüer: Unverhofft kommt der Tod
3.2.24: Bernd Watzka: Der majestätische Lauch
3.2.24: Robert Müller: Wenn’s einmal aus wird sein. Selbstmord auf Wienerisch
3.2.24: Johannes Tosin: Was soll ich dir sagen?

So Wahrheit

Die Wahrheit
wollen wir sie sehen?
Existiert
eine Wahrheit?

Die Wahrheit
schüttelt uns
beunruhigt uns
zertrümmert unsere Gewissheiten
und macht sie
bröckelig

Man kann nicht neutral bleiben
der Wahrheit gegenüber
Man nimmt sie an oder lehnt sie ab
man kämpft für die Wahrheit
oder gegen die Wahrheit

Die Wahrheit
ist ein Akt der Rebellion
notwendig
um aus der lauwarmen Schläfrigkeit
des ruhigen Lebens aufzutauchen

Die Wahrheit zu sagen
macht uns einsam
tief einsam
In den Apfel zu beißen
fordert eine Wahl
die Kenntnis
und wer gesehen hat
kann nicht mehr schweigen

Annamaria Bortoletto
https://laltraidea.wordpress.com

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 24069

LIES MICH!

Roman schlendert durch die Innenstadt, als ein Buch direkt vor ihm auf den Gehsteig knallt. „Raus damit!“, hört er zugleich eine Frauenstimme aus einem weit geöffneten Fenster im dritten Stock kreischen. „Raus!“ – „Raus!“ – und mit jedem weiteren „Raus!“ wird temperamentvoll ein Buch aus dem Fenster geschleudert. Ein junger Mann stürzt aus dem Haustor und beginnt hastig, die Bücher aufzusammeln.

„Meine Freundin ist wütend auf mich, weil ich lieber lesen als mich mit ihr unterhalten will“, klärt er Roman unaufgefordert auf, während ihnen beiden nun gelbe Reclam-Hefte um die Ohren flattern. „Tja, meine baldige Ex-Freundin ist sehr temperamentvoll“, fügt der Mann seufzend dazu. Roman, der sich weder mit aus Fenstern fliegenden Büchern noch mit Konflikten fremder Leute auseinandersetzen, sondern in Ruhe seinen obligatorischen Nachmittagsspaziergang fortsetzen will, möchte diesen dramatischen Ort rasch und dezent passieren, als ihm ein schweres Buch auf den Kopf fällt und dann vor seinen Füßen landet.

„LIES MICH!“, kann Roman noch den in Goldbuchstaben gedruckten Titel des dicken, rotgebundenen Buches entziffern, bevor ihm schwarz vor Augen wird.

„Oh, wie furchtbar!“, hört er den jungen Mann entsetzt rufen. „Ich hoffe, Sie sind nicht verletzt!“

„Aber nein, alles gut“, beeilt Roman sich, diese Gefahrenzone nun endlich zu verlassen. „Alles gut, alles gut.“

Und er geht, nein, er schwebt nun förmlich weiter, fühlt sich trotz Brummschädel so ungewohnt beschwingt, dass er ernsthaft überlegt, ob eventuell durch die Wucht, mit der dieses schwere Buch seinen Kopf getroffen hat, irgendein bis dahin schlummerndes Areal seines Gehirnes aktiviert worden ist und dies jene wunderbare Leichtigkeit in ihm auslöst.

„Lies mich, lies mich …“, summt er fröhlich die beiden Wörter vor sich hin, die golden vor seinem inneren Auge leuchten.

‚Warum eigentlich nicht?‘, denkt Roman übermütig, ‚warum eigentlich nicht wieder einmal ein Buch lesen?‘

Er überlegt, wann dies das letzte Mal der Fall gewesen ist. Es liegt tatsächlich viele, viele Jahre zurück. Roman ist ein Spaziergänger, ein Billardspieler, ein Katzenfreund, ein Pfeifenraucher.  Roman ist vieles, aber kein Leser. Er biegt in die Fußgängerzone ein und schreitet feierlich auf eine kleine Buchhandlung zu. Höflich lässt er einer alten Frau den Vortritt, die ebenfalls in den Laden will und folgt ihr hinein. Drinnen grüßt er lächelnd die telefonierende Buchhändlerin, und nickt freundlich einem älteren Mann zu, der tief in einem Ohrensessel und in ein Buch versunken ist. Der Lesende, die alte Frau, die sogleich zielsicher ein Regal mit der Kennzeichnung Lyrik ansteuert, und er, Roman, sind die einzigen Kunden.

Roman sieht sich um und stellt sich schließlich vor eine Bücherwand mit der Aufschrift Romane – nomen est omen. Als er seinen Blick über die Bücher in den Fächern schweifen lässt, bleibt dieser auf einem ihm bekannten, dicken roten Buch hängen.

„Ah!“, entfährt es Roman überrascht und „He!“, ruft er empört, als ihm plötzlich der vertraute, goldene Titel „LIES MICH!“ ins Auge springt. Seine gute Laune verschwindet schlagartig. Tiefste Beunruhigung macht sich stattdessen in ihm breit.

„Kann ich Ihnen behilflich sein?“, erkundigt sich die Buchhändlerin, die ihr Telefonat beendet und sich kundenfreundlich zu Roman gesellt.

„Ich bitte darum! Stellen Sie sich vor: Der Titel dieses Buches da ist mir soeben ins Auge gesprungen. Wenn Sie so nett wären …“

„Aber gerne. Dieses hier?“ Sie greift nach dem roten Buch. „Igitt! Was klebt denn da Ekliges auf dem Cover? Und warum steht da kein Titel darauf?“

„Das Eklige“, räuspert sich Roman beleidigt, „ist mein Blick, der an dem Buch hängen geblieben ist. Und der Titel ist mir, wie schon gesagt, vorhin ins Auge gesprungen. Bitte helfen Sie mir, ihn wieder herauszufischen, es juckt entsetzlich!“

„Ich fische doch nicht in fremden Augen“, weicht die Buchhändlerin, das rote Buch zwischen spitzen Fingern, hinter ihr Kassapult. „Ich ersuche Sie, Ihr Problem eigenhändig zu lösen.“

„Aber ich schaffe es nicht ohne Hilfe“, klagt Roman, und zwinkert mitleiderregend. „Und schließlich entstand mein Problem aufgrund eines Buches Ihrer Buchhandlung.“

„Junger Mann, ich will mich ja nicht einmischen“, mischt sich der ältere Mann im Ohrensessel ein, „aber ich finde Ihr Jammern so dermaßen absurd. Offensichtlich haben Sie keine Ahnung von Büchern. Der Sinn und Zweck guter Bücher ist doch, dass sie uns zunächst einmal ins Auge springen. Und dann, beim Lesen, da sollen sie uns im Innersten treffen, uns aufwühlen, uns den Atem, den Schlaf, ja, sogar den Verstand rauben! Dieses hier zum Beispiel“, hebt er das Buch in seinen Händen demonstrativ hoch, „dieses Buch liegt mir schon nach wenigen Sätzen im Magen, es geht mir an die Nieren – und, jammere ich deswegen?“ Er schnauft verächtlich. „Im Gegenteil, ich freue mich darüber! Sie sollten dankbar sein, wenn Ihnen ein Buch ins Auge sticht, denn dann will es von Ihnen gelesen werden! Also kaufen Sie es gefälligst, anstatt sich zu beklagen, und setzen Sie sich mit ihm auseinander!“

Und sichtlich, erschöpft nach seinem langen Plädoyer, verschwindet der Mann wieder hinter seinem Buch.

„Das sind die Kunden, die wir brauchen“, seufzt die Buchhändlerin zufrieden, und sagt dann an Roman gewandt: „Auch ich empfehle Ihnen, jenes Buch zu kaufen, an dem Ihr Blick kleben geblieben ist. Das Lesen dieses Buches wird Ihnen garantiert die Augen öffnen. Es kostet zwanzig Euro.“

Flink befördert sie das rote Buch in eine Papiertasche und reicht sie Roman.

„Sie erlauben doch –“, drängt sich die alte Frau vor. „Sie erlauben doch, dass ich zuvor diesen Lyrikband bezahle? Wissen Sie, ein Gedicht darin hat mich direkt ins Herz getroffen.“

„Aber natürlich, bitte, sehr gerne“, flüstert Roman und reibt beschämt so unauffällig wie möglich sein Auge.

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 24068

Der Rote

Wir sagen „der Rote“ zu ihm. Er ist der rotgetigerte Nachbarkater, sehr alt, wir wissen nicht wie alt, aber es sind mehr als zwanzig Jahre. Früher ist er öfters hergekommen, und wir haben ihm zu fressen gegeben. Jetzt ist Winter, da bleibt er lieber zuhause, auch wenn es nur ein paar Meter von seinem Zuhause bis zu uns sind, nimmt er den Weg nicht auf sich, wahrscheinlich tun ihm die Knochen weh.

Er hat nur einen halben Schwanz. Über die andere Hälfte fuhr ein Auto, sie musste deshalb amputiert werden. Er tut sich daher beim Klettern schwer.

Irgendwann wird der Rote wohl nicht mehr kommen. Dann ist er im Katzenhimmel. Dort hat er wieder seinen ganzen Schwanz, er ist jung, schnell und stark. Und er wird nur so allein sein, wie er möchte.

Die Katze Lady Strange und der Rote am 12. Juli 2022

Die Katze Lady Strange und der Rote am 12. Juli 2022

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 24066

Der linke Mensch

Er ist nur ein halber Mensch, und zwar der linke. Er würde gern seinen rechten Menschen treffen und mit ihm einen vollständigen Menschen bilden. Aber gab es ihn immer schon nur als linken? Er kann sich nicht erinnern. Beginnt vielleicht seine Erinnerung zu dem Zeitpunkt, als sein rechter Teil von ihm abfiel? Er sieht sonst nur ganze Menschen mit seinem linken Auge.

Als er nachhause geht, sind dort nur linke Schuhe, linke T-Shirts und ein linker Fernseher. Und linke Zeitungen liegen auf dem Wohnzimmertischchen.

Die rechte Notarzt-Marionette beim SPIELMANN am 24. Mai 2023

Die rechte Notarzt-Marionette beim SPIELMANN am 24. Mai 2023

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 24065

Hallo Mädels!

Der Gigantopithecus war ein bis zu drei Meter großer Affe. Leider ausgestorben, klar, wie kann es bei der Größe anders sein? Oder möglicherweise doch zum Glück für den Homo erectus.

„Hallo Mädels!“, sagt das Alphamännchen zu seinem Harem. „Hallo, mein Lieber!“, „Hallo, unser Unterstützer!“, „Hallo Chef!“ oder so ähnlich grüßen die Weibchen zurück.

Was der Boss will, kann man sich denken. Noch ein Jungriesenaffe?, überlegt ein Weibchen. Wir haben doch schon längst kaum noch zu essen. Vielleicht wäre ein neuer Chef besser?

Das Tier-Klopapier - Affe

Das Tier-Klopapier – Affe

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 24064

Sesselgedichte: Hoffmann: Sitzmaschine, 1905

Hoffmanns Hände schufen
zwei „Us“ mit Zwischenstufen.

Die kippt’ er parallel
als Sesseltraggestell.

Drauf legt’ er eben jene
quadratgestanzte Lehne,

die nach dem U-Schwung fällt –
da staunte alle Welt!

Bestaun in der Vitrine
Hoffmanns „Sitzmaschine“!

Der Sesseltyp war längst bekannt,
doch hat ihn niemand so benannt.

Grafik: Jannis Edelsbacher

Grafik: Jannis Edelsbacher

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

Die gesammelten Sesselgedichte sind bereits als Lyrikband mit Illustrationen erschienen.
Er ist beim Autor käuflich zu erwerben: Zur Kontaktaufnahme senden Sie bitte
ein Mail an redaktion@verdichtet.at, wir geben die Bestellwünsche gern weiter.

www.verdichtet.at | Kategorie: möbliert | Inventarnummer: 24061

Sesselgedichte: Gustav Sigl: Armlehner für die Pariser Weltausstellung 1900

Seht das „U“ als Element
der fünften Weltausstellung!
In Paris um Neunzehnhundert
wurde Sigls Werk bewundert!

Der solches in die Welt gedrängt
war grad mal zwanzig Jahr jung:
Rücken, Lehne, Füße gar –
mit einem Schwunge war’n sie wahr!

Doch niemand mehr kennt seinen Namen,
Gustav Sigl war aus Wien.
Und Hoffmann, Wagner übernahmen
seine Formen und auch ihn.

Grafik: Jannis Edelsbacher

Grafik: Jannis Edelsbacher

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

Die gesammelten Sesselgedichte sind bereits als Lyrikband mit Illustrationen erschienen.
Er ist beim Autor käuflich zu erwerben: Zur Kontaktaufnahme senden Sie bitte
ein Mail an redaktion@verdichtet.at, wir geben die Bestellwünsche gern weiter.

www.verdichtet.at | Kategorie: möbliert | Inventarnummer: 24060

Sesselgedichte: Wilhelm Schmidt für Prag-Rudniker, 1903

Weil’s keiner weiß, teil ich es mit:
Entworfen hat mich Wilhelm Schmidt.
Noch denkst du weiter nichts dabei,
doch ist mein Jahrgang Neunzehndrei!

In mir hebt die Moderne an
von Morris bis zu Mondrian!
Und bin mir dabei nicht zu stolz
für Korbgeflecht und Buchenholz.

Grafik: Jannis Edelsbacher

Grafik: Jannis Edelsbacher

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

Die gesammelten Sesselgedichte sind bereits als Lyrikband mit Illustrationen erschienen.
Er ist beim Autor käuflich zu erwerben: Zur Kontaktaufnahme senden Sie bitte
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www.verdichtet.at | Kategorie: möbliert | Inventarnummer: 24059